IV. Unterwegs zur Individualkirche

q.
Noch einmal zurück zur Anfangsvision, zum Umhergehen Jesu. Umher ging Jesus im Tempel, περιεπατει, von περιπατεω, umhergehen, wandeln, leben – eine Art der Fortbewegung, eine Art zu existieren überhaupt. Der Spaziergang/ das Umhergehen gibt seinerseits dem Ort den Namen: περιπατος für den Säulengang, die Halle, nicht im Tempel jetzt, sondern in der lykenischen Philosophenschule außerhalb Athens, wo Aristoteles lehrte, und die ihrerseits der ganzen aristotelischen Schule den Namen gab: die Peripatetiker. Übrigens handeln die einzigen erhaltenen Schriften der Schule, die von Aristoxenos, ausgerechnet von Harmonik und Rhythmik.
Umhergehen steht für eine nachdenkliche Existenzform. Es liegt eine Spannung darin, die jederzeit zu Wort und Tat werden kann, wie im Umherschweifen eines hungrigen Tieres. Andererseits liegt eine Verhaltenheit darin, ein Abwarten, eine Beherrschung. Deutlich verweist das sichtbare Verhalten des Gehens auf einen inneren Vorgang, eine Überlegung, ein Abwägen. Neurologen würden es vielleicht als eine innere Repräsentanz der äußeren Handlung bezeichnen – dann ist die Auf- und Abbewegung das Mittlere zwischen der Tat und dem Gedanken.
In der Mitte des Evangeliums geht Jesus im Tempel auf und ab, dem Mittelpunkt Israels, der in sein Eigentum gekommen war und darin als einzelner Mensch lebt – der Tempel als der Inbegriff der ganzen Schöpfung. So gehen im Mittelpunkt der geistigen Welt Griechenlands die Denker auf und ab, in der Wandelhalle des Gymnasiums, den Kosmos und seine Gesetze studierend. So wird einmal Paulus die Halle des Geistes betreten und dort an die Denker sein Wort richten vom Namenlosen, der sich in kein System fügt, weil er lebendig ist – und sie werden keine Freude damit haben: Auf- und Abgehende wollen in kein System gefügt werden, sie erkennen aus sich selbst heraus.


r.
Wenn Jesus umhergehend aus seiner Individualität schöpft, dann ist er aber doch kein Individualist. Es geht ihm nicht um die Selbstverwirklichung, sondern um die Gotteserkenntnis der Menschen: Er, der am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht. Beim Vater sein ist bei sich sein, umhergehend und nachdenkend, Nachdenken als Gebet, als Einschätzung der Situation. Die christlichen Peripatetiker sind zunächst konfus und eilen hin und her zwischen Haus und Höhle. Ihre Jesus-Erkenntnis vertieft sich im Nachsinnen seinem Wort, und im Studium der Ereignisse der anfänglichen Kirche. Nichts von dem, was Jesus getan hat, lässt sich für sie wiederholen. Jesus hat ihnen kein System gegeben, keine Schrift – sondern ein Gehen! Den Weg kennt ihr, sagt der Weggehende wie beiläufig. Die Neugeburt der Auferstehung, das sei das Umhergehen in der inneren Jesus-Gewissheit, aus der der Individuum gewordene Christ frei handelt. Ich bin der Weg. Die Erkenntnis des Umhergehenden, der in Jesus ist – so wie der Sohn im Vater – ist wahr: Ich bin der Weg und die Wahrheit.Diese Freiheit im Auf- und Ab, die nicht vorab zu sichern ist, sondern stets errungen und gesucht werden muss, ist fortan christliche Existenz. Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.


s.
Was das der heutigen Kirche sagt? Die Gesellschaftsentwicklung scheint gerade umgekehrt zur angeblichen Befreiung des Individuums immer mehr Gewicht in die Systembildung gelegt zu haben, vom Imperialismus und Nationalismus des 19. Jahrhunderts hin zu den Ideologien des 20. und der subtileren, aber dafür weltumfassenden Verfügbarmachung des Menschen durch wirtschaftliche Abhängigkeit im 21. Jahrhundert. Die mitteleuropäische katholische Kirche nimmt seit dem 19. Jahrhundert einen ähnlichen Weg, etabliert eine hierarchische Weltkirche und vernetzt sie hermetisch mit Standes- und Klassenmilieus. Als der stabile gesellschaftliche Unterbau schwand, kam der Katholizismus ins Schwanken, und von der Volkskirchenzeit blieben nur mehr Lager übrig, die nischenhafte Behausungen bieten – vorübergehend. Doch selbst die links- und rechtskatholischen Lager sind eher an der Höhle orientiert als am freiem Umhergehen. Wenn endlich die Jüngerstafetten wieder in Gang kommen, dann wird sich herumsprechen: Gleich, an welchem Ende die Tücher liegen, die Höhle ist leer!

Ich wollte sicher sein, dass ich nicht vergeblich laufe oder gelaufen bin

Gal 2, 2

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