Donnerstag, 8. November 2012

Der nicht vermisste letzte Mensch. EINE FILMBESPRECHUNG ZU „DIE WAND“

Nun ist endlich dieser epochale Roman der Haushofer verfilmt worden, nach 50 Jahren. Warum so spät?
Vielleicht war das Erzählte einfach zu verstörend. Dass mit einem Mal die Menschheit verschwunden ist und die Frau allein bleibt. Und, noch schlimmer: Dass diesem allerletzten Menschen die Menschheit auch nicht abgeht.
Wenn Martina Gedeck , gleichalt wie das Buch, diese namenlose Frau spielt, dann verkörpert sie diese auf wundersame Weise haargenau so, wie ich sie mir bei der Lektüre vorgestellt habe. Karg, etwas verschlossen, in der früheren Menschenwelt teilnahmslos und abgeschieden, in der späteren Naturwelt aufmerksam und aufgeschlossen. Ein ungeborgener Mensch, der, zunächst im Überlebenskampf, sich doch schließlich einrichtet in der Jagdhütte und im Vegetationsjahr, und sogar eine Idylle erfährt mit Hund und Katz beim Kachelofen, mit der Kuh im Stall.
Anders als jene Endzeitfilme, von „Planet der Affen“ bis „I Am Legend“, wo es stets eine Perspektive gibt, die Menschheit noch zu retten, gibt es in „Die Wand“ kein Bedauern über das Verschwinden der Menschen. Ja, die Frau scheint sogar damit einverstanden zu sein, und als sie den vorletzten Menschen tötet, da gibt es keine Spur von Bedenken. Dieses stillschweigende Einverständnis ist wohl der Grund, warum sie so wenig fragt und forscht nach den Rändern der Wand, nach dem Radius der verbliebenen Welt sowie nach dem Sinn der plötzlichen Abgeschiedenheit. Es genügt ihr.

Das ist das Prophetische an Haushofers Werk, und es wird durch die Verfilmung noch unterstrichen: Dass der Mensch nicht abgeht. Dass man ihn benützen kann, in Hugos Haus wohnen kann, von seinen Vorräten zehren, anderer Herren Haustiere pflegen kann, ohne diesen Unsichtbaren dankbar zu sein. Dass der allerletzte Mensch sich selbst genügt. Im teilnahmslosen kalten Blick auf die beiden zur Fotographie erstarrten Figuren außerhalb der Wand ist das zu sehen. Und im dumpfen Ton der unsichtbaren Wand ist es zu hören. Hören ist wichtiger geworden als Sehen: die Stimmen der Natur füllen nun den Kosmos, weil die menschliche Sprache verstummt, kein Gespräch mehr stattfindet, nur mehr die Rekapitulation des Gewesenen für einen unbekannten Adressaten. Möglicherweise war der erste Mensch ein Mann – aber der letzte ist eine Frau.

Montag, 17. September 2012

Wie es kam, dass ich jetzt mit den Kalkbergen versöhnt bin

Es waren Zwänge, die mich zur Freiheit geführt haben. Die Wettervorhersage von der Kaltfront am nächsten Tag. Der Abbruch der Besteigung im letzten Jahr. Der neue Sicherungsgurt. Und die Schulkonferenz noch am frühen Nachmittag.

Erst um 16 Uhr erreichte ich das Bärental, und ich sah zu meiner Bestürzung, dass gerade über dem Hochstuhl die einzige dunkle Wolke Kärntens höhnisch auf mich herunterdrohte. Lass ich mich einschüchtern?

Ich finde, Wille ist wichtiger als Vernünftigkeit. Ich steige den Weg hinauf zum Einstieg des Klettersteigs, den Gipfel mit der Wolke stets im Blick. Bei Verschlechterung wäre ich auf den fast gleichhohen, aber bequem erreichbaren Gaisberg ausgewichen. Die Wolke sieht mich grimmig abwartend an und bewegt sich nicht.

Jederzeit zur Umkehr bereit, notfalls auch nass, steige ich schließlich – viele sind mit bergab entgegengekommen mit verwundertem Blick – still und allein im Hochtal über den Geröllhang auf den Felsen zu. Ich nehme zum ersten Mal die neuen Gurten aus dem Rucksack und lasse ihn unter einem Stein zurück. Die ersten senkrechten Anstiege über die Eisentritte: das Ein- und Ausklicken scheint Zeit zu kosten, obwohl ich meist nur einen Karabiner verwende. Mit Respekt blicke ich den Felsen hinauf und den größer werdenden Abgrund hinunter. Ich mache eine Rechnung, zu welchem Zeitpunkt ich umkehren müsste, um bei Tageslicht zurückzukommen.

Ich komme weiter als letztes Jahr. Statt der Wolke umfließt mich warmer Spätsommersonnenschein. Ich sehe den Gaisberg gegenüber bereits tiefer liegen, zum Gipfel habe ich jedoch keine Sicht. Ich gehe dennoch weiter. Zuletzt gibt es einige Schleifen über Schutt und Sand, was ich nicht mag und was ich den Kalkbergen vorhalte.

Am Gipfel, der bereits in Slowenien liegt, treffe ich ein junges Pärchen und sehe, dass sie nicht mehr absteigen werden, sondern in der nahen Hütte bleiben. Ich klopfe aufs Kreuz und trete sofort den Rückzug an, ungeschickt in Sand und Geröll. Es dämmert bald. Ich gehe über die kleinen Grate, Abgründe auf beiden Seiten, schneller und aufrechter als zuvor. Ich achte darauf, mich nicht zu versteigen und keine Zeit zu verlieren. Ich freue mich auf die Seile im unteren Bereich und nehme die ungesicherten Stellen kaltschnäuziger. Aber selbst in dieser Situation ist es ein Genuss, sich auf den glatten, warmen, rissigen Stein zu stützen und mit den Füssen Tritte und Vorsprünge zu suchen. Man kann zu diesem Weg Vertrauen haben. Ist nicht erst das ein Abgrund, wenn der Boden nicht mehr zu sehen ist?

Als die Drahtseile kommen, atme ich auf. Ich kann sie gerade noch sehen und klinke mich ein. Ich merke, dass es wieder um die knappe Zeit geht. Immer wieder passiert mir das. Jetzt, wo ich mit Sicherung gehe, ist die Zeit das Abenteuer. Und es stellt sich heraus, dass selbst im Sternenlicht - der Mond kommt erst später – die Vorsprünge noch zu sehen sind (oder zu ahnen). Die weißrote Markierung, die im Nachtlicht dann und wann neben mir auftaucht, ist ein Friedenszeichen. Schalom.

Ich höre Laute und Geräusche, denke an Menschen drüben im Wald – aber es sind immer Tiere, Kauze, brüllende Rinder. Bellende Rehböcke. Weiter oben hat es geklungen wie eine Windharfe. Ich denke daran, dass solche Musik der Geschöpfe auch in der Kirche klingen sollte.

Ich spüre es, wenn ich mich dem Geröllhang nähere, es beruhigt, obwohl der steilste, fast überhängende Leiteranstieg gerade dort ist. Dass es trotzdem auch im Finstern möglich ist, den Stein entlang hinunterzugleiten, liegt daran, dass der weißgraue Kalk sehr hell ist in der Nacht, und selbst die fernen Sterne darauf Schatten werfen.

Ich springe von der letzten Sprosse, hole meinen Rucksack und taste mich, ohne die Gurten abzulegen, über das Geröll hinüber zum Wald, irre manchmal, sehe doch wieder eine Markierung. Bald bin ich auf dem Waldweg und schreite mit geraden Schritten hinunter. In der Stadt machen die Laternen die Sterne unsichtbar – hier leuchten die Sterne und von unten der Kiesweg. Die dunklen Berge, die jetzt immer höher werden, umstehen mich wie Tanten, aber sie lachen nicht über mich,kein Ton, höchstens ein stumm erhobener Zeigefinger.

Manchmal, wenn die Baumwipfel zusammenstehen und ich durch Tunnel steige, dann zerfällt das Bild des Kieswegs in zwei getrennte Bilder für beide Augen, dann geht man, Lichtpunkte oben, Lichtpunkte unten, durch den Weltraum ohne Tiefe und Entfernung.

Einmal sehe ich vier Flugzeuge gleichzeitig auf Kreuzbahnen, als würden sie zusammenstoßen, und erst jetzt merke ich ihr Geräusch, von den Felswänden zurückgeworden. Ich habe Sorge, den Parkplatz im Wald zu versäumen, aber knapp vor mir taucht aus der Finsternis der Schranken auf, und dort, unter Bäumen, steht nunmehr als einziges mein silbergraues Auto

Mittwoch, 28. März 2012

Film und Wasser

Zwei Dinge stimmen überein zwischen "Und dann der Regen" von Regisseurin Icíar Bollaín aus dem Jahr 2010, und " Aguirre, der Zorn Gottes" von Werner Herzog aus dem Jahr 1972:
Der Urwald, der von Indios behaust ist, und in dem Weiße wüten und töten,
sowie der Umstand, dass Leichen augenblicklich aus dem Feld schwinden.
Und vielleicht noch ein Drittes:
Wie sich die planende und zupackende Zivilisation zunehmend verheddert und schließlich ihre Projekte auf absurde Weise ins Leere laufen.
Nicht nur Kritik am Kolonialismus, sondern System- und Mentalitätskritik.

https://www.und-dann-der-regen.de/

Donnerstag, 22. März 2012

was ich lese

Sie werden bestimmt nicht gedacht haben, dass Sie hier ein Fachvortrag erwartet zu den beiden angekündigten philosophischen Büchern, die bereits vor Jahrzehnten erstmals und nun neuerlich erschienen sind, und womöglich dazu angeregt oder gar aufgefordert werden, diese Bücher zu erstehen und anschließend selbst durcharbeiten zu müssen – denn diese Veranstaltung ist ja kein Leseseminar, sondern eine Präsentation privater Lektürevorlieben mit einem gewissen Unterhaltungswert. Andererseits erwarten Sie von mir zu Recht Ehrlichkeit bei der Literaturangabe, sodass ausgeschlossen werden kann, dass ich hier Texte präsentiere, die ich gar nicht gelesen habe, oder Texte auslasse, die ich sehr wohl gelesen und sogar da und dort erwähnt habe. Das trifft nämlich gerade bei dem umfangreichen Buch von Panajotis Kondylis zu, das ich vor Zeugen mehrfach das Buch des Jahrzehnts genannt habe, weshalb ich jetzt nicht mehr umhin kann, es auch vorzustellen. Meine Zwickmühle ist aber mit dem Gegensatz zwischen ernster Philosophie und launiger Unterhaltung noch nicht vollständig wiedergegeben, denn das noch größere Dilemma besteht darin, dass Sie das Thema dieses Buches und wahrscheinlich meiner ganzen Literaturwahl auch persönlich betreffen wird, weil jedenfalls zu erwarten ist, dass Besucher von Vorträgen recht bürgerliche Leute sind, zumal in einer Buchhandlung. Man könnte ja auch der Meinung sein, dass Angriffe auf Bürger nicht in Büchern erfolgen sollen, weil doch Bücher fast nur von bürgerlich eingestellten Menschen gelesen werden, und somit Bürgerkritik in Buchform früher oder später das Kulturgut Buch abschaffen würde – oder auch den Bürger – und vielleicht ist das ohnehin bereits im Gange oder schon abgeschlossen.

Und somit verspreche ich, heute nichts über Kondylis zu sagen, obgleich es sich um ein brillantes und leider nur in Fachkreisen bekanntes Buch handelt. Wahrscheinlich hat Kondylis das auch selbst so gewollt, denn er hat sich konsequent aus dem akademischen Wissensbetrieb herausgehalten, so konsequent, wie ich das sonst nie gesehen habe. Man stelle sich vor, 300 Seiten über die Ideen- und Motivgeschichte des Bürgertums zu schreiben, ohne ein einziges Werk, einen Künstler, Wissenschaftler, Politiker oder ein Datum zu nennen! Natürlich erhöht das weder Verständlichkeit noch Lesevergnügen, abgesehen von einem gewissen detektivischen Reiz, den es hat, Andeutungen zu folgen und sich falsche oder richtige ungenannte Autoren oder Werke vorzustellen. Außerdem disqualifiziert sich das Werk ja bereits durch seinen Titel, denn was soll an einem Bürgertum noch interessant sein, wenn es angeblich bereits untergegangen ist. Wahrscheinlich muss das Buch selbst zu dem darin konstruierten Phänomen gerechnet werden, dessen Erscheinen und Verschwinden auf hunderten Seiten ausgebreitet wird, ohne ein einziges Faktum zu nennen. Deshalb ist es nur folgerichtig, dass ich dieses Buch auch niemals besessen habe, denn es war seit Jahrzehnten vergriffen, und die jüngste Neuauflage erschien zu einem stattlichen Preis.
Bei Formulierungen wie der folgenden denke ich unwillkürlich an bestimmte Menschen, deren Lebenshaltung mich zugleich fasziniert wie auch abgestoßen hat, ohne dass ich das damals, als Schüler und Student, noch einer bestimmten sozialen und ideologischen Figur wie dem Bürgertum hätte zuordnen können. Aber hören Sie selbst:

„Derselbe Wunsch, Natur und Vernunft, Geist und Materie, Norm und Trieb im Rahmen eines übergreifenden harmonischen Ganzen miteinander in Einklang zu bringen, beflügelt die bürgerliche Anthropologie. Das Harmonisierungsbestreben, das auf ontologischer Ebene in der doppelten Abgrenzung gegen den Dualismus und den Monismus bzw. den Spiritualismus und den Materialismus gründete, entstand im Bereich der Anthropologie aus der doppelten Abneigung gegen das restlose Aufgehen des Menschen in der materiellen Natur und gegen eine solche Erhebung über die Natur, dass er nur im Himmel seine wahre Heimat finden könnte. (...) Die Auffassung, der Mensch herrsche kraft seiner Vernünftigkeit über die eigene Natur, hing freilich auch eng mit der Überzeugung von der Beherrschbarkeit der äußeren Natur und dadurch mit der modernen Naturwissenschaft und dem Glauben an die Naturgesetzmäßigkeit zusammen.“ (30)

Ich habe in jugendlichem Alter solche Haltungen, die mir in imposanten Persönlichkeiten, z.B. einem Priester und Religionslehrer, begegnet sind, für lauwarm und inkonsequent gehalten. Dennoch hat gerade er mir Kirche und Glauben mit Nachdruck unter die Nase gerieben. Jüngst habe ich sein Gedenkbild wiederentdeckt, auf dem er stolz vermerkt: „Kirchliche Auszeichnungen: Keine. Auszeichnung durch einen Jugendlichen: Wenn sogar du in dieser Kirche bist, dann bleibe ich auch!“ Der hier bezeugte Gegensatz zwischen einer starken Präsenz bei Menschen und einem theologischen Konservativismus, bestimmten mein Kirchenbild in jungen Jahren, eigentlich bis zum Theologiestudium. Es war kein Darum-Glauben, sondern eher ein Trotzdem-Glauben. Auch die Rede von der Naturliebe machte mich misstrauisch. Vielleicht sind die am Plan abgehakten Wanderwege eher ein Instrument der Herrschaft und Selbstbestätigung. Die Art von Vernunft, die mir damals von der älteren Generation begegnete, schien mir überaus interessengeleitet zu sein, und was daran sich als religiös gab, war wenig glaubhaft.

„In der Geschichte entfaltet oder aktualisiert sich die menschliche Natur – und der Versuch, in jener Gesetzmäßigkeiten aufzuzeigen oder dem Einfluss materieller Faktoren, von den geographischen bis zu ökonomischen, auf die Spur zu kommen, entsprang im bürgerlichen Denkrahmen nicht so sehr der Wunsch, die menschliche Autonomie zu relativieren, sondern eher der Absicht, den unberechenbaren Einmischungen Gottes in das Weltgeschehen ein Ende zu setzen. (...) Der bürgerliche Evolutionismus (...) bildete den Gegenbegriff zum theologischen Fixismus, der seinerseits den Ewigkeits- und Unveränderlichkeitsanspruch der societas civilis in den Kosmos hineinprojizierte. In der bürgerlichen Vorstellung paarte sich indes die Idee des Fortschritts und der Entwicklung mit der Idee der Ordnung“ (33)

Somit erschien mir das Streben nach Beherrschung der Natur, auch der eigenen, z.B. mit Hilfe der Vorstellung Freuds von der Triebökonomie, indem man sich gerne kleine Laster gestattet zugunsten der Ablenkung von stärkeren Bedürfnissen, als wenig überzeugend. Die Abdrängung Gottes zu einem Wunderwirker in beschränktem Rahmen konnte ich zwar als Argumentationsfigur anwenden, aber wirkliche Erkenntnis erwartete ich davon nicht. Mein Gefühl warnte mich davor, mich einem solchen wohlgeteilten Bürgerhimmel zu verschreiben, wie mir auch für meine Wohnung und meinen Tagesablauf übertriebene Ordnung verdächtig war, und mich stets mehr das Unvorhergesehene interessierte, und das, was aus der Reihe trat. Mein Kampf gegen die bürgerliche Weltvermessung wurde auf Radtouren und Reisen per Anhalter ausgetragen, und die Benützung des Privatautos von Einzelpersonen trotz möglicher Alternativen erscheint mir bis heute als unmoralisch und engstirnig. Wahrscheinlich habe ich deshalb nicht in den vorgesehenen Lebensjahrzehnten geheiratet und eine Familie gegründet, sondern bin Vagabund geworden.

Aber solche Konsumgewohnheiten sind nach Kondylis eigentlich als nachbürgerlich zu betrachten, obwohl sie unzweifelhaft die ehedem bürgerlichen Anliegen darstellen, nur dass sie inzwischen einer Masse zugänglich geworden sind, in die hinein die historische Formation des Bürgertums sich inzwischen aufgelöst hat. Und während meine Generation immer noch den vermeintlich heroischen Kampf der 68er gegen das System hochhält, breitet Kondylis ein Beispiel um das andere aus, um den Übergang vom bürgerlichen Wertekanon zum massendemokratischen Konsumkanon zu beschreiben als die gesellschaftliche Durchsetzung der früheren bürgerlichen Anliegen.

„Die Abschaffung des bürgerlichen Bildungskanons geht ... mit dem Kampf gegen die Autorität und mit dem Bestreben einher, Spontaneität und Kreativität als Voraussetzungen für die Selbstverwirklichung zu entwickeln. (...) Wir meinen die grundsätzliche soziale Nivellierung der Altersstufen, die genauso wie die angestrebte Beseitigung der Unterschiede zwischen den Geschlechtern aus dem Aufstand des Egalitarismus gegen die Biologie folgen muss. (...) Vor diesem Hintergrund entsteht der massendemokratische Kult der Jugend und der Jugendlichkeit, dem die Älteren ständig Rechnung tragen müssen, indem sie sich mit unterschiedlichem Erfolg bemühen, möglichst lange fit zu bleiben....“ (220)

Man sieht, wie sich die Aufklärungsideale vom freien Subjekt durchgesetzt haben in der modernen Massendemokratie – ein Leitbegriff bei Kondylis – für die Selbstverwirklichung zum Dogma geworden ist. Die Freiheitsforderung geht so weit, einerseits völlige Angleichung aller zu fordern: der Männer, Frauen, Jugendlichen, Kinder, Senioren, Reichen, Armen, und sowohl Forderung wie auch Umsetzung durch dem Massenkonsum von Gütern zu gewährleisten. Frauen, Kinder und Senioren traten deshalb ins Rampenlicht, weil sie als Konsumenten gebraucht wurden am bereits gesättigten Markt. Andererseits geht die Freiheitsforderung der anspruchsvoll gewordenen Konsumenten auch gegen die eigene Natur. Empfängnisverhütung und Abtreibung, Lebensverlängerung, künstliche Befruchtung, Manipulation am Erbgut oder Neubewertung von Homosexualität haben den Menschen mehr Verfügung über die Natur gebracht, aber auch viele neue Probleme und Fragen.
Es ist wohl das, was mich an Kondylis´ Untersuchung so beeindruckt hat, dass der Zusammenhang zwischen bürgerlichen Einstellungen, liberal oder konservativ, mit heutigen Konsumhaltungen und ihrem ungeniert zur Schau getragenen Hedonismus so klar nachgezeichnet wird. Ich beginne zu verstehen, wie noch so konservativ eingestellte Persönlichkeiten zugleich ohne jede Zurückhaltung sich modernster Konsumartikel bedienen und jeden Trend mitmachen können, ohne das als Widerspruch zu empfinden.
Was noch aussteht, und das interessiert mich ja stets am meisten, ist die Neubewertung der Rolle, die Bürgertum und bürgerliche Haltungen und Werte in der Kirche spielten und heute spielen. Ich frage nach der bürgerlichen Theologie, für die Kants Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ vielleicht ein Schlüsselwerk war, und nach ihren philosophischen und gnostischen Verästelungen bis zur Esoterik, jeweils im Horizont der abendländischen Kirchenspaltung durch den Protestantismus. Die Pole bürgerlicher Religion, der Deismus und der Pantheismus, sind wahrscheinlich Voraussetzungen und zugleich Begleitumstände der aufkommenden Naturwissenschaft, die nach wie vor regelmäßig Weltdeutungen produziert, ohne dass diese kirchlich wahrgenommen oder beantwortet würden. Zugleich ist auch unser Kirchenbetrieb selbst von bürgerlichen Interessen durchzogen, die als kirchlich erscheinen und in einem fort Machtkämpfe generieren, und vielleicht ist ein Leben aus dem Glauben gar nicht anders als mit einem bürgerlichen Schatten vorstellbar. Hat jemand dazu eigentlich schon einmal die heilige Schrift befragt?

Nun möchte ich mich einer womöglich noch sonderbarer und eigenwilliger Buch-Erscheinung zuwenden, nämlich Josef Mitterers „Die Flucht aus der Beliebigkeit“. Der Philosophieprofessor an der Klagenfurter Universität führt auf knapp 200 Seiten und in 160 Paragraphen vor, in welcher Beliebigkeit philosophisches Denken, und Denken und Argumentieren überhaupt, sich bewegt, und wie alle erreichten Positionen, als Rationalismus und Empirismus, Konstruktivismus und Dekonstruktivismus usf, stets nur das für sich in Anspruch nehmen können, dass ihre Vertreter sie eben vertreten. Die dargestellten Richtungen erscheinen als Glaubensrichtungen, die sich jeweils im Besitz der Wahrheit sehen, und untereinander dogmatisch argumentieren. Warum aber jemand eine bestimmte philosophische Auffassung vertritt, liegt nach Mitterer an dessen Biographie, wer seine Lehrer waren, und wo er studiert hat, und nicht an der Wahrheit der Auffassung, denn diese ließe sich niemals gültig darstellen gegenüber anderen Positionen. In lakonischem Stil führt er das seitenweise vor, mit einfachsten Beispielen und ohne Fachvokabular. Alle großen philosophischen Fragen erweisen sich solcherart als ungelöst, und man kann staunen über den großen Aufwand, der über Jahrtausende betrieben wurde ohne gültige Ergebnisse.

Es geht Mitterer dabei um das, was allen philosophischen Denkschulen gemeinsam ist, nämlich dass sie zwischen der Welt und dem Diskurs über die Welt unterscheiden. Er nennt das dualistische Redeweise. Sie findet sich in der Gegenüberstellung von Sein und Denken, Subjekt und Objekt, Idee und Wirklichkeit, Sprache und Sein, Wort und Ding. Indem zur Welt das Reden über die Welt gesetzt wird, entsteht ein Entsprechungsverhältnis. Diese Entsprechung kann zutreffen oder nicht zutreffend sein, wahr oder falsch. Auf der Ebene des Redens entstehen nun Methoden und Regeln, die eine wahre Aussage von einer falschen unterscheiden. Dabei versucht jede Argumentation, im Reden die Sprachebene zu verlassen und die Ebene der Wirklichkeit zu erreichen. Dieser Übergang ist der Wahrheitsdiskurs. Nur, so Mitterer, sei das Problem des Übergangs eben ein Folgeproblem des dualistischen Denkens, und auf langen Seiten führt er das mit immer neuen Ansätzen und Beispielen als zirkulären Vorgang vor, bis dem Leser schwindelt und er sich zu fragen beginnt, ob denn da kein Ausweg ist aus dem Strudel.

Er mag sich erinnern an die Sprachkritik des frühen Wittgenstein, die Elementarsätze fordert zur genauen Wiedergabe der Tatsachen, und andere Reden zurückweist, oder an die Sprachspiele des späten Wittgenstein. Mitterer verleugnet diese Verwandtschaft nicht. Aber zeigt nicht gerade Wittgenstein die Parallelität zwischen Sprache und Sein erst recht? Näher verwandt erweist sich sein Denken mit dem Konstruktivismus, aber auch diesen überführt er in einem eigenen Anhang des dualistischen Denkens. Weniger aufmerksam scheint die Kritik an Mitterer für dessen Verbindung zu erkenntnistheoretischen Positionen Nietzsches zu sein. Dessen berühmter Aphorismus 22 aus Jenseits von Gut und Böse führt die Wissenschaft vor, die Naturgesetze findet und zu Tatsachen erklärt. Er bestreitet, dass die Objekte der Wissenschaft der Text wären, den sie rekonstruiert, und von dem sich durch Interpretation und Ableitung die moderne Technik und Lebensweise gewinnen ließe. Der Tatsachentext, der Kult des Faktischen, sei selbst Interpretation, so Nietzsche, und der gesuchte Boden des Faktischen, auf dem wir stehen, bloßes Wunschdenken. Er nennt das den zweiten Atheismus, den entmachteten Glauben an die Naturgesetze.

Nietzsche öffnet in dieser erkenntnistheoretischen Grundsatzdiskussion das Tor zur existenziellen Dimension. Er könnte beinahe als der Entdecker der interessensgeleiteten Argumente gelten, der aufzeigt, was es jemand nützt, so oder so zu denken und zu argumentieren. In seiner Genealogie der Moral hat er das mit Nachdruck ausgeführt. Er gibt uns damit einen Fingerzeig zurück zum eingangs untersuchten Bürgertum und seiner Geisteshaltung. So soll also nun Mitterer nach seiner eigenen Position befragt werden, da ja nach dessen Dekonstruktion der Philosophiegeschichte schwer noch eine von dessen Kritik ausgenommene Position denkbar bleibt. Er nennt in einer Handvoll Paragraphen eine Nichtdualisierende Rede, die die genannten Probleme unterlaufen könne.

„Nichtdualisierendes >>Reden über<< ist nicht mehr auf das Objekt der Rede gerichtet, sondern geht vom Objekt der Rede aus. Über ein Objekt reden heißt die Rede so far in einer Rede from now on fortführen.“, sagt Josef Mitterer in Paragraph 157. Solcherart wird darauf verzichtet, einen Wahrheitsanspruch einzuführen und die Gültigkeit der eigenen Aussage zu untermauern. Stattdessen stellt Mitterer das Prinzip der Interpretation heraus, dass sie nämlich später ist als das Interpretierte. Der Unterschied zwischen den Aussagen liegt nicht in ihrer metaphysischen Ableitung, sondern im Zeitpunkt der Rede. Der den früheren interpretiert und dessen Rede über das Objekt fortführt, hat recht – bis ein anderer seine Rede wieder interpretiert. So ist die Rede über das Objekt selbst als Objekt begriffen, und fällt mit ihm zusammen. Damit ist der bisherige Wahrheitsbegriff obsolet, und die Aussagen erscheinen alle gleichwertig und auf der gleichen Ebene. Die einzig relevanten Unterschiede liegen nicht in einer Rangordnung oder Abbindung an Unbestreitbares, sondern bloß in der Reihenfolge. Das ist sozusagen ein demokratischer Wahrheitsbegriff, der es nicht nötig hat, ein Jenseits des Diskurses zu behaupten, sei es eine Wirklichkeit oder ein Ding an sich oder eine Idee.

Wenn es dabei bleibt, welche Folgen hätte ein solches Wahrheitsverständnis für unser Leben, und im besonderen für die theologische Rede? Autoritäten wie Eltern oder Lehrer hätten es dann noch schwerer, denn die Geltung ihrer Rede könnte noch weniger als bisher von ihrer Position abgeleitet und begründet werden. Der Zögling könnte jederzeit sagen: Ich interpretiere deine Rede und das, wovon du redest, anders, und meine Aussage gilt from now. Leichter aber hätten es die Prediger. Denn sowohl das jeweilige Schriftwort wie auch alle bisherigen Interpreten könnten jederzeit in freiem Sinne in eine neue Rede hineingestellt werden, sodass jede Predigt eine Zeitenwende sein möge, wie auch Jesus es verstanden hat, der sagte: Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist... / ich aber sage euch: ....
Man sieht sogleich, dass der neue Wahrheitsbegriff, auf den Mitterer zugeht, mit der Persönlichkeit zusammenhängt, der ihn vertritt, und mit seinem Geist. Die Behelfe können auf Dauer nicht vor falscher Rede schützen, die Person muss als überzeugend erfahren werden, der Erweis liegt in der Präsenz der Person. Und wenn es strittig sein mag, wer nun recht hat: nun, so warten wir eben auf den, der danach kommt und redet. „Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist – und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? – nun, umso besser.“ (Jenseits von Gut und Böse, Aph 22)

Die Wendezeit, die sich, wenn schon nicht bei Kondylis oder Mitterer, so doch zumindest in meiner Interpretation abzeichnet, wie sie mit den Wendungen so far/from now markiert ist, spielt, wie man bemerken wird, bei meiner Literaturwahl eine große Rolle. Dabei gebe ich nicht allein der Zeit und ihrer Texte die Schuld, sondern bin bereit und gefasst, auch das Lesen selbst gebührend in die Pflicht zu nehmen. Eine Art Lesens wie das vorgestellte vermag ja überall, Wendezeichen zu finden, oder das Lesen wendet selbst die Zeichen, bis ein neuer Sinn erkennbar wird. So gestehe ich unumwunden, dass selbige Ergebnisse auch aus jeglicher anderer Literatur gezogen hätten werden können, sodass die schließlich erzielte Auswahl sich mehr pragmatischen Erwägungen verdankt, wie der Verfügbarkeit der Texte (bis auf einen), ihr jüngeres Erscheinungsdatum, oder auch bloß die Quantität der Zeit und Interpretationen, die ich mit ihnen verbrachte. So würde ich gerne versuchen, einen Textauszug von Gerhard Rühm mit Ihnen gemeinsam zu untersuchen, um darauf zu achten, was in einem solchen Text liegen mag oder was wir Leser darin finden wollen:

ABAELARD UND HELOISE
achleitner. eisenbahnstreik. aeschylos. sämtliche dramen. albrecht. abriss der römischen literaturgeschichte. albumblätter. alexis. die hosen des herrn bredow. cabanis. der roland von berlin. der werwolf. der falsche woldemar. andersen. bilderbuch ohne bilder. glückspeter. der improvisator. nur ein geiger. sämtliche märchen. sein oder nichtsein.
anschütz. erinnerungen aus dessen leben und wirken. griechische anthologie. apel und laun. gespensterbuch. archenholtz. geschichte des siebenjährigen krieges. ariosto. rasender roland. aristoteles. die poetik. verfassung von athen. arndt. erinnerungen. gedichte. wanderungen mit stein. bettina von arnim. goethes briefwechsel mit einem kinde. arnim-brentano. des knaben wunderhorn. arnold. die leuchte asiens. augustinus. bekenntnisse,.

Ich würde diesen Textauszug gerne sogleich mit Ihrem Einverständnis als anarchistisch bezeichnen. Wie Sie jetzt nicht sehen können, schreibt Gerhard Rühm in radikaler Kleinschrift, das bedeutet, ohne jede Hierarchie im Schriftbild, kein Buchstabe vor anderen ausgezeichnet, alle vor Gott gleich. Das einzige verwendete Satzzeichen ist der Punkt. Damit sind alle Textteile ebenfalls gleichwertig nebengeordnet. Da kein Satz vorliegt, gibt es auch keinen Satzbau, welcher die Glieder in eine Ordnung zwingen würde. Zwar hat der mit mehreren Seiten längste Text des Buches eine Überschrift, aber diese fügt ihn bloß ins Buch ein, innerhalb des Textes sind die beiden Wörter eben die ersten beiden in der Kette der Gleichrangigen, ohne hierarchische Funktion.
Die Anarchie bedeutet nicht, dass im Text keine Ordnung wäre. Zunächst fällt der Buchstabe A auf, der den gesamten Text alphabetisch strukturiert – eine Ordnung, die sich gleichsam aus der Sprache selbst ergibt. Sodann soll auf die Auswahl der Textglieder geachtet werden.
Petrus Abaelard, der große und streitbare Philosoph und Theologe des Mittelalters, eröffnet diese Sequenz. Das lässt eine Streitschrift erwarten, Unnachgiebigkeit und Disput bereits in der Überschrift. Aber Abaelard wird zusammen mit Heloise genannt, deren Privatlehrer er war, und die er liebte. Als sie ein Kind erwartete, sollten sie getrennt werden. Doch Abaelard gelang es, sie zu heiraten. Beide gerieten unter Druck, Heloise kam im Kloster unter, Abaelard wurde entmannt. Später betreute er Heloises Klostergemeinschaft spirituell, was ihm wieder Feinde machte.
Somit steht Rühms Fragment unter dem Zeichen von Liebe und Konflikt, von Spannung und Anziehung, Freude und Missgunst. Es ist deutlich ein Beziehungszeichen, und zwar aus der Welt des Denkens und Glaubens. Mehrere Nennungen fügen sich in diese so eröffnete Reihe, Aischylos, die Literaturgeschichte, Sein oder Nichtsein, Aristoteles, die Poetik, Augustinus und seine Bekenntnisse – diese mehrfach, sowohl im Sinne des Glaubenskampfes, des großen Denkers, wie auch durch die dort bezeugte spannungsreiche Liebesbeziehung.
Mehrere Nennungen beziehen sich auf Goethe und die deutsche romantische Dichtung. Aber es gibt auch Anspielungen auf den Wiener Aktionismus der Nachkriegsjahrzehnte, zu dessen Vertretern Rühm selbst gehört, sowie der gleich anfangs genannte Friedrich Achleitner, womöglich noch origineller als Rühm selbst, auch heute noch. Der Werwolf mag auf H.C. Artmann anspielen und seine Vampirgeschichten, ebenso wie die Kleinschrift und die alphabetische Reihung. Rühm ist Komponist, Sprachdichter und arbeitet mit Gestik und visueller Kunst. Sein anarchischer Ansatz, der bereits im Buchtitel >LÜGEN ÜBER LÄNDER UND LEUTE< aufscheint, öffnet ein Feuerwerk von Ideen und Anfängen, ohne dass es respektlos und selbstgerecht würde. Rühm kennt und nennt seine Voraussetzungen und Vorläufer, das Zitat ist ein selbstbewusstes Element seiner Texte, die Anspielungen klug und wohlgesetzt. Wenn jemand fragt, worauf er denn mit seinem Text hinauswolle, so wird sich schon eine präzise Antwort finden.

Oswald Wiener, von dem der vierte heute vorzustellende Text stammt, obwohl er nicht in der Aussendung stand, weil er nicht mehr lieferbar ist, habe ich vor einigen Jahren bei einem Vortrag an der Uni Klagenfurt erlebt, und war enttäuscht. Viel witziger und hintergründiger schienen mir seine Texte und Aktionen, als der etwas steife und ungelenke stattliche Herr, der ohne jede Spur von Ironie oder Hintergründigkeit über künstliche Intelligenz referierte. Das erste, was ich von Wiener kannte, war sein Text über den Bio-Adapter. Das ist eine Glücksmaschine, an die der Mensch angeschlossen wird, und die nach und nach seine körperlichen und geistigen Funktionen übernimmt. Damals studierte ich fürs Lehramt Biologie und Deutsch und hatte noch keine Ahnung von Computern und Handys, von Google und Satellitennavigation. Aber die Warnung, durch Technik den Menschen überhaupt über-flüssig zu machen, erschien mir sehr begründet, zumal sie von dem Bürgerschreck, Philosophen und Kreativgenie stammte. DIE VERBESSERUNG VON MITTELEUROPA, ROMAN führt Sprachkritik vor auf einem, ich würde sagen, exzessiven Niveau, mindestens ebenso radikal wie die bisher vorgetragenen Stücke, und dazu in einem fröhlichen und rücksichtslosen Ton, ohne je zu zögern, jederzeit die Probe des Behaupteten bei sich selbst zu machen, also mit einem zutiefst existenziellen Bezug. Hören Sie ein recht willkürlich ausgewähltes Fragment:



die zivilisationserscheinung des lachens.
sprache ist alles, was bedeutung vermuten lässt, (eigens für die theologie formuliert die welt eine meinung gottes, sie beweist ihn indem sie die welt zu einer sprache erklärt,) und sinn mutmassen heisst die sinnlichkeit degradieren.
das lachen bedarf der sprache und ihrer suggerierten endgültigkeit.
fernöstliche ökonomie, wie sie so oft mit abstraktion verwechselt wird, gibt einem witz sein kolorit; die pointe aber ist eine vernichtung der situation durch eine analogie, die ziellos bleibt und induktion verbietet. der eingestimmte hörer, er ist ja besten willens, belacht die beschränktheit seiner eigenen konzentrierten auffassung, verständnislos und doof weilt der asket.
das paradoxon allein ist komisch und bringt, als ungefährliches wunder, kindlichen gästen entladung.
witzig ist die unbesehene analogie, die unverbindlich angedeutete ersatzsituation, letztlich die erkenntnis.
das witzwort ausserhalb der ihm zugedachten situation ist unlustig wie letztere an sich, so weit so gut. wer schneller denkt, lacht aber neuerdings über die beschreibung allein, herzlich.
der spiesser nimmt den witz nicht ernst, lehnt dessen kongruenzverfahren nicht ab, obwohl es sich ausdrücklich nur auf momente beschränkt: der spiesser gestattet sich den witz, weil er ihn für ein spiel hält. je nun – es ist aber jegliche erkenntnis erheiternd; was uns verstummen lässt ist die verbindlichkeit, die usupatorische verallgemeinerung. ernst macht mich, dass .

Der Wittgenstein´sche Ansatz wird sogleich gebrochen am Lachen, das möglicherweise eine Welterschließung jenseits der Sprache gewährt, die ja beschränkt ist. Aber zugleich sind Lachen und Witz jederzeit dazu angetan, den Spießer bloßzustellen. Einerseits führt Wiener eine Souveränität der Sprachbeherrschung vor, indem er an ihren Grenzen entlang navigiert und in einem fort Ebenen überspringt zwischen Fachvokabular, Nihilismus und Erzählung, insbesondere indem er vorgibt, etwas Bestimmtes zu sagen, eine Erkenntnis zu präsentieren und dem Leser/Hörer mit Bestimmtheit vorzusetzen. Doch andererseits besteht gerade sein Manöver darin, die Unmöglichkeit der verbindlichen Aussage über die Welt vorzuführen. Bemerkenswert, dass selbst dieser verquere Aphorismus übers Lachen nicht ohne Theologie auskommt. Ich könnte mühelos die Darstellung der Welt als Meinung Gottes als Zitat aus Musils Mann ohne Eigenschaften belegen, der bestimmt in Wieners Reichweite ist – möchte aber meinem Vorsatz treu bleiben, endlich einmal einen Vortrag ohne Musil zustandezubringen. So verweise ich auf Augustinus, der die Welt mit den Gedanken Gottes zusammenbringt, und bin ebenso wieder bei der Sprache gelandet.

Was mich von jeher faszinierte am Wiener Aktionismus, war diese Einheit von Kunst und Existenz, ja eigentlich ist diese seltsame, ausschweifende Form der Künstlergruppe zugleich Existenz und Kunst. Deshalb sind Texte und Filme, Aktionen und Malerei, Musik und Kabarett, Architektur und Wissenschaft nur verschiedene Kanäle desselben unbändigen Hervorbrechens eines neuen Denkens. Die Welt neu zu sehen, neu zu denken und neu zu schaffen, war gewiss nach dem Krieg und der darauf folgenden Dumpfheit sehr nötig, aber dieses Ereignis ist nicht nur ein regionales, sondern markiert einen Übergang, wie er weiter oben von einer anderen Seite bereits beschrieben wurde. Ich habe von diesem Übergang vielleicht einen anderen Begriff als Ossi Wiener und der Aktionismus, bin aber nichtsdestotrotz davon überzeugt, dass er gemacht werden muss. Neidvoll habe ich immer auf dieses Kollektiv hingeschaut, das Politisches Kabarett macht und Performances veranstaltet, ein Team aus lauter Individualisten, das frech einen neuen Sinn einführt und in vielem bis heute richtungsweisend wurde, z.B. in der Literatur und im Experiment. Wenn Sie mich nicht verraten, dann gestehe ich an diesem unverdächtigen Ort, dass ich ja deshalb Priester geworden bin, um kreative Talente aufzuspüren und Aktionskanäle zu erweitern, und ich bin guter Dinge, dass vielleicht aus dieser Pfarrgemeinderatswahl nun das geniale kreative Team hervorgehen wird.

Samstag, 14. Januar 2012

Faust und das metaphysische Mißverständnis

Es ist Unverstand, wenn behauptet wird, diese brillante Faust-Verfilmung sei nicht metaphysisch, weil sie das Irdische so betone. Als wäre Metaphysik die Behauptung einer nichtirdischen Welt. Stattdessen ist Metaphysik die Frage! Und der Film beginnt bereits mit der Frage: Wo ist die Seele? Im Kopf, im Bauch, in den Füßen? Schließlich: Gibt es überhaupt eine Seele?
Christina Nord schreibt im Standart, der Regisseur wolle von den großen Fragen von Gut und Böse, Gott und Teufel nichts wissen, sondern interessiere sich nur für komische Gesten. Ich würde sagen: Christina Nord interessiert sich für nichts anderes, oder man kann im Standart nichts anderes schreiben. Christoph Huber schreibt in der Presse immerhin von der Beschwörung des Irdischen, aber auch er sieht im Film eine Abwendung vom Metaphysischen.
Dazu nun eine Klärung: Metaphysik ist primär ein Fragen und Suchen. Natürlich geht sie vom Konkreten aus, aber die Frage- und Suchbewegung geht ins Prinzipielle, Grundsätzliche, Allgemeine. Letztlich in die Frage nach dem Sein. Und der Film handelt von Anfang an beinahe von nichts anderem. Zuerst der Blick vom Himmel auf die Erde, der der folgenden Geschichte Rahmen und Horizont gibt. Ganz am Ende erst wird der offene Himmel wieder sichtbar, als Faust durch das unirdische Jenseitsland stapft, und nunmehr die Frage mit der eigenen Person verkörpert: Hat er den Satan besiegt? Lebt er? Versteht er? (Die genannten Interpreten haben den Rahmen nicht beachtet!) Die Frage nach der Seele wird anfangs, im Wühlen im Leichnam, gestellt und zugleich ironisiert, dann vorläufig beantwortet mit Ja und Nein, durch die Vorstellung des reinen Materialismus, durch die Begegnung mit dem jenseitigen Wucherer, durch den Verkauf der eigenen Seele, durch die Frage nach Gretchens Seele. Die Frage nach Gott wird von Faust zuweilen abschlägig beantwortet. Aber was ist sein Wüten anderes als ein Aufbegehren gegen Gott? Und mehr noch bei Wucherer, der eigens eine Kirche sucht, um die Notdurft zu verrichten! Gebe es Gott nicht, gegen wen rebellierten dann die beiden, mit dem Einsatz all ihrer Kräfte?
Andererseits handelt der Film weniger vom fragenden und suchenden Doktor Faust, unterwegs nach den Grundprinzipien, die die Welt zusammenhalten. Sondern von einem, der diese offenen Fragen nicht mehr aushält, und sich Schritt um Schritt von ihnen abwendet – und seinem ganz irdischen egoistischen Begehren nach Gretchen zuwendet. „Die Wissenschaft besagt, dass der Tod existiert“, doziert er ihr altklug, und hat sich längst als unwissend entblößt. Der Gehilfe Wagner bleibt bei der Wissenschaft und bringt den Homunculus hervor. Wucherer selbst distanziert sich von Fausts Begehren. Aber Faust vergräbt sich. Das ergibt die Ästhetik des Films, der immer tiefer in die Enge führt, in Gänge und Gassen, Gedränge und Finsternis. Satan, das ist der Ankläger und Versucher, der Widersacher. Dämonenhaft herrscht die skurrile Figur des Wucherer in den stinkenden Gassen. Entsetzen befällt den Betrachter, man will weg, heraus aus der Enge, und sieht stattdessen Faust in immer schlimmeren Verrenkungen mit diesem verstrickt, und als endlich ein Lauf durch die Gassen ein Abrücken, eine Flucht sein könnte, da ist es längst zu spät. Was für Faust der Höhepunkt sein sollte, seine Nacht mit Gretchen, das wird doch nichts anderes als ein Hantieren mit einem Körper ohne Leben, also wieder mit einem Leichnam. Und wenn er schließlich doch, nach der Steinigung des Satan, in die Weite aufbricht: Da ist nichts mehr, was zu entscheiden wäre. Da ist Faust mit sich selbst allein in einer leeren, öden Welt. Ist er da noch? Das ist wohl metaphysische Metapher genug für ein Zukunftsbild des heutigen Menschen und seiner Hybris. Als Metaphysik von der Abwendung vom Metaphysischen.

REGIE: Alexander Sokurow
Darsteller:
Faust: Johannes Zeiler
Wagner: Georg Friedrich
Wucherer (Mephistopheles): Anton Adasinsky
Gretchen: Isolda Dychauk

Sonntag, 16. Oktober 2011

Glavinic auf Pilgerreise?

Was kann man erwarten von einem Roman, der einen Ungläubigen und Unwissenden auf eine Pilgerfahrt nach Medjugerje schickt? Es beginnt wie eine Art Forschungsreise, oder eine Entdeckungsreise ins Religiöse oder in die eigene Seele, wenn der Erzähler begründet, die Medjugorje-Pilgerfahrt wäre kürzer und billiger gewesen als eine nach Lourdes. Als ahnungsloser Zeitgenosse sitzt er dann im Bus, zusammen mit seinem noch gröberen Freund, beobachtet belustigt das Figurenensemble der Pilgergruppe und wundert sich über das Beten und andere religiöse Praktiken. Aber sowohl in den Sitzreihen des Busses, wie im Pilgerhotel, bei den religiösen Vorträgen und Gottesdiensten, als auch nachher bei seiner „Flucht“ an die kroatische Küste versteckt er seine wahren Motive. Er habe „in seinem ganzen Leben noch nicht gebeichtet und werde es auch garantiert niemals tun“, zeigt er sich überraschend dogmatisch immunisiert. Andererseits sagt er, „etwas über den Glauben dieser Menschen und vielleicht gar über meinen eigenen erfahren“ zu wollen. Zwischen diesen motivischen Klippen bewegt sich die ganze Reise, im ersten Teil durch eine skurrile Pilgerwelt, im zweiten durch eine noch skurrilere Balkanwelt. Wie durch Nebel erscheinen schemenhaft religiöse Ereignisse, Begegnungen mit anderen Pilgern, mit dem Freund und mit dem eigenen Vater und dessen Familie. „Manchmal gleiten Zeit und Dinge an mir vorbei“, erkennt er in einem lichten Moment. So darf man also keine Analyse eines religiösen Hotspots erwarten, und auch keine wirklich personale Begegnung mit Menschen oder dem Religiösen.
Was aber beinahe noch grotesker wird als die Pilgerkulisse, ist der streng konsumistische Vordergrund. Die beiden Freunde und Fremdlinge hanteln sich von einem Restaurant ins andere, fortwährend wird „bestellt“ und „serviert“, Bier und Schnaps, Pizza und Cevapcici aufgetischt und verdrückt, und man fragt sich, wie und wann das alles verdaut und verarbeitet werden soll. Unschwer sind die aufkommenden Gesundheitsbeschwerden als eine Folge dieses atemlosen Schlingens erkennbar, und sie steigern sich maßlos im fortgesetzten Tablettenkonsum. Im Finale furiosum kippt diese rasende Unruhe wie in einem Kippbild plötzlich in das gewitterhafte äußere Geschehen, und das verbleibende Ich erscheint als subjektlose, leere Gestalt. Das Unglück, kein Heiliger zu sein, könnte als Erkenntnis dastehen, leer geworden zu sein, ohne die Seele dem Heiligen verschrieben zu haben – falls Gavinic überhaupt auf eine wahrhafte Begegnung aus ist und nicht nur auf einen skurrilen Plot, wofür ich freilich keine Beweise habe.

Samstag, 26. Februar 2011

Zurück am Boden

Es ist ein nasser Boden, die Schneedecke hat ihn nach Monaten wieder frei gegeben, obwohl trotzdem viel zu früh, Mitte Februar so weiche, warme Luft heraufströmen haben auf die Berghänge, und sie in ein solches Licht getaucht von oben beobachten, wo sie nun schutzlos und angreifbar daliegen wie das ganze Jahr nicht, ohne Laub und ohne Schnee, nackt und erdig, topfig weich, bei jedem Schritt schmatzend aufstöhnend und zugleich sich noch weiter auszustrecken in der Länge und in der Höhe. Es ist ein Auf- und Niederfahren auf dieser Erde, das die Zeit außer Kraft setzt, nicht nur durch Vergessen, durch Vorüberziehen, sondern durch den veränderten Atem, der heiß und schnell geworden ist, durch den Puls, der zu jagen begonnen hat und dann doch wieder etwas nachgibt, und weil so der Gang der Zeit ausgesetzt hat, weil in dieser Innigkeit irrelevant geworden ist, was dort vorgehen möge und gültig wäre in den Tälern, und selbst die Gesichter der Bauern, die ich zum ersten Mal vor ihren steinernen und hölzernen Häusern sitzen sehe, den täglichen Aufgaben enthoben und mir mit versonnenen Blicken folgend, ohne zu begreifen, wen oder was sie da erblickten, und einzig die Hunde mir ein paar Schritt gefolgt waren und bald wieder abgelassen hatten, um wieder in die versunkene Stille dieser Erde zurückzusinken, die über den grauen Wiesen stand, hatten jeden Fortgang vergessen und sind entrückt worden an diesem Tag.
Es war eine Frau gegenwärtig hier, Ingrid, Freundin aus alten Tagen, sie war hier gewesen, als noch der Schnee gelegen war, auch damals schon locker und gehbar, oder am Wege von Traktorrädern griffig gemacht oder ganz verschwunden, und sie, die Geherin, die mir viele Wege und Berge erschlossen hat, zu jeder Jahreszeit, die stundenlang, auch tagelang in den Wäldern sein konnte, auch allein, und darin zu wohnen schien, sie, die von einem Seeufer an ein anderes gezogen war und die ich an der Donau kennengelernt hatte, sie ist mit einer großen Natürlichkeit und Eleganz mit mir diesen Weg hinaufgestiegen, Kehre um Kehre, während wir schon das zur Neige gehende Nachmittagslicht gewahrten, so gesammelt, das nichts anderes Platz hatte als unsere Worte und der Boden unter unseren Füßen und die Eisgebilde am Wegrand, und in diesem Gegenwärtigsein geschah es, dass wir auf etwas aus waren, ohne es ausdrücklich wahrzuhaben, Kehre um Kehre höher steigend, in unser Gespräch vertieft, ob die neuerten Entwicklungen in der Psychologie auch die menschlichen Beziehungen angemessen beschreiben konnten, oder immer noch den Menschen primär als Einzelnen im Blick habe, und weiter, ob nicht, nach eineinhalb Jahrhunderten Krankheitsforschung, von der man annehmen könnte, dass sie mehr der Definition und Ausbreitung der Krankheit gedient habe als der Gesundheit, wie Michel Foucault das neurotische Jahrhundert beschrieben hatte, nun endlich eine Psychologie der Gesundheit treten könne, die mehr zu bieten hätte als Wellness, und sie – wann war mir das zuletzt passiert – die Frage nicht sogleich abwies und zurückwies, sondern selbst mitfragte und dann dennoch viel entgegensetzte, aus ihrer Erfahrung sprach und aus Literaturkenntnis, nun, da hatte sie manchmal einem dieser Holzwege nachgeschaut , die an den Kehren weiterliefen und sich bald im Wald verloren, und hatte mir zögerliche Blicke zugeworfen.
Ich hatte diesen Waldweg einige Male beschritten letzten Herbst, und war nach der letzten Kehre auf einer abgeholzten Schneise am Hang gestanden, und ein paar Schritte steil hinauf oder hinunter gestiegen, ohne irgendein Anzeichen eines Ausweges zu finden, obwohl irgendwo im Bergwald ein Übergang sein solle zum gegenüberliegenden Berg, auf den sich ein ebensolcher Weg hinaufschlängelte und schließlich unvermittelt endete. Auf diesen verborgenen Ausweg waren wir zugestiegen, ohne uns sonderlich Rechenschaft zu geben über die Umstände, sondern hatten ganz mit dem genug, was uns entgegenkam, und sahen Wölkchen, die von unten zarte Pastellfarben anzunehmen begannen, während wir, nebeneinander herschreitend, auf etwas aus waren, Ingrid leichtfüßig, in Naturfarben gekleidet, mit einer unwahrscheinlichen Mütze auf dem Kopf, die sie auch nicht abgelegt hatte, als wir unten in meinem Zimmer gekocht und gegessen hatten, in dem alten Steinhaus, das zuweilen tief unter uns zwischen den Baumstämmen sichtbar wurde, und ich in meinem dünnen Anorak, immer wieder damit beschäftigt, die blanken Eisflächen zu umgehen, um nicht ins Schlittern zu kommen, und da war es geschehen, dass wir aufs Geratewohl doch einmal eines dieser Weglein hinunterstiegen, ich erinnere mich deutlich an das umgestürzte Bäumchen, zwischen dessen schneebedeckten Zweigen wir wie durch einen Vorhang hindurchschlüpfen mussten, um danach das Unbekannte auszuschreiten, manchmal zögerlich, zuweilen auch übermütig, als nämlich ein von Eisplatten gerahmtes munter glucksendes Bächlein zu überspringen war, und wir uns nach ein paar Wendungen schließlich einem Felsblock näherten, der zu umschreiten war und eine Entscheidung anzukündigen schien. Und als wir dann vor dem Ende standen, auf einem Holzplatz, vor gefällten Baumstämmen, da gab es erstmals Blicke, die etwas Bestimmtes wollten, die etwas erwarteten, ich erinnere mich deutlich an diese plötzlich sich auseinanderspannende Zeit, diese Dehnung, als wir schnaufend dastanden und die Blicke schweifen ließen, und umhertasteten, wohl mit einer bestimmten Witterung in der Nase. Und auf einmal waren wir die paar Schritte zu dem weiter oben hinter Baumstämmen und abgeholztem Dickicht verborgenen Ausläufer des gegenüber liegenden Weges geraten, über den wir, sogleich in großer Gewissheit bis zur Abzweigung, und dann weiter talwärts ausschritten, obwohl er sich immer wieder weit in den Gegenhang zu verlieren schien, was Ingrid, die Geherin, bisweilen anmerkte.
Die besondere Anmut dieser Freundin an jenem Tag, die mir den lang gesuchten Ausweg erschlossen hatte, dieser Geherin, die mitging und mitgehen ließ, war auch jetzt mit mir, als sich die Unebenheiten des Übergangs etwas gesenkt oder gehoben hatten und der nasse Boden nicht gleichgültig war gegen meine Schritte, und ich nicht gegen ihn.

Dienstag, 8. Februar 2011

Das Wüten der Welt. Marten´t Hart

Adriaan erlebt sozusagen an einem Tag sein ganzes Leben. Wie ein Prolog sind die Begegnungen und Ereignisse an diesem Tag, deren Bedeutung sich erst Jahre später nach und nach zeigt. Es ist eine Geschichte aus der holländischen Nordseeprovinz, und es zeigt sich, dass ein großer Horizont eines flachen Landes noch längst nicht eine weite Sicht erzeugt, denn die Provinz ist ja ein geistiges Phänomen, kein geographisches.
Wenn einer, der tot sein sollte, dennoch lebt, so ist es wie ein Unrecht. Fortan bestimmt der Kampf um Rechtfertigung sein Leben, und ist darin vollendeter Ausdruck des protestantisch-lutherischen Lebensgefühlsdas eben nicht durch Werke, wie im Katholischen, sondern allein durch Glauben die Rechtfertigung sucht, für die es aber zu Lebzeiten keine Gewissheit geben kann. Wenn an seinem Lebensabend im Irrenhaus der religiöse Eiferer, an dessen Hartherzigkeit alle Familienmitglieder zerbrochen sind, immer noch auf Rechtfertigung hofft, so kann das doch wieder Respekt einflößen vor dieser durch Tatsachen unbeirrbaren Hoffnung, einer radikalen Glaubensvariante.
Wenn indes im Leben des heranwachsenden Adriaan Ereignisse ihren Lauf nehmen, wenn er völlig unberührt bleibt von altersgemäßen Erscheinungen, wenn er ein Sonderling wird, der sich um andere Sonderlinge müht, dann sieht man nach und nach einen großen Plan sich vollziehen, dann wird ein auf Prädestination gestütztes Glaubensverständnis sichtbar, eine Gottesbegegnung, für die nicht Gebet und Liturgie, wohl aber Deutesätze der heiligen Schrift maßgeblich sind, und eben das Menschenleben selbst - wer es zu lesen versteht.
Der Großvater ist der Mystiker, der aus Liebe und Distanz die Fäden sieht, an denen Gott zieht, und in großer Gelassenheit Glauben und Gottlosigkeit auf eine Stufe stellt.

Die eigentliche Hauptperson in Harts Romanen ist jedoch die Zeit selbst. Während der Großteil des Personals Unwissende sind, in engen Grenzen Lebende und sich damit begnügend, ist es die Zeit, die Bedeutung schafft. Das beobachtete Kriegsschiff des jungen Adriaan entspricht der späteren Weltreise in der Waschküche der Fregatte, die dennoch nicht aus der Provinz herausführt, sondern eher die ehemalige Seemacht Holland als provinziell vorführt.
"Das Wüten der ganzen Welt" war der Erstlingsroman Harts, in dem der Protagonist sein Leben lang einen Kriminalfall aufzulösen versucht, dessen Zeuge er als Junge geworden ist. Er will ein Geheimnis lösen, das über ihm liegt, über seiner Welt, ihrer Fremdheit und Unerbittlichkeit, und so tastet er sich mit unbeirrbarer Hartnäckigkeit einer Lösung und Klärung entgegen. Auch hier ist es die Zeit, die wie ein Mantel über der Welt liegt und sie erträglicher macht, in der blinden Hoffnung auf Aufklärung seines Lebens und dessen Verwicklungen. Und in beiden Büchern lüftet schließlich die Zeit den Mantel und gibt etwas preis, lässt etwas erkennen und zusammenwachsen. Das Glück liegt weniger in den Leistungen des Protagonisten, oder in seinen Entscheidungen - als Subjekt kommt er wenig zur Geltung. Eher kämpft er mit fremden, unverständlichen Mächten und bekommt geschenkt, was zuletzt zu seinem Leben gehört. In diesem Sinne ist der Protagonist wie Kafkas Herr K, Glavinic´Jonas oder Hotschnigs Kurt Weber. Was die Zeit ihm gewährt, muss erkannt und verstanden werden. Weit davon entfernt, Herr seines Lebens und seiner Entscheidungen zu sein, liegt sein Glück zuletzt darin, das zu bejahen, was die Zeit ihm in den Schoß legt, ungeschuldet. Der Sinn ersteht am Grauen entlang

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