Donnerstag, 27. Januar 2011

Von Menschen und Gott

Endlich einmal ein guter, einfühlsamer wie auch intelligenter und kritischer Film, der christliches Leben thematisiert. Abseits der Klischees, die Kirche würde sich vorwiegend mit Zölibatsdiskussionen oder Machtfragen beschäftigen und damit, was jemand darf und was nicht, und jenseits der Vorurteile, christliches und gar mönchisches Leben sei weltfremd und ahnungslos, wird aber gerade diese radikale Weise der Christusnachfolge sehr natürlich und schnörkellos dargestellt.

Ein Kloster bei einem Dorf, französische Mönche im algerischen Atlasgebirge. Szenen selbstverständlicher Alltäglichkeit. Der Bruder am Traktor, Furchen ziehend. Er und eine junge Frau aus dem Dorf, die behutsam Zwiebeln setzen in die Furchen. Der andere Bruder, der das Kind in den Armen schaukelt und den Abszess am Kopf als ungefährlich erklärt, und den verschämten Blick der Mutter schließlich richtig deutet, dass ihr Schuhwerk zerschlissen ist und sie neue Schuhe braucht. Der junge Algerier, der frühmorgens die leeren Gassen hinaufeilt und im Kloster bei Maurerarbeiten hilft. Die junge Frau, die dem alten Mönch von ihrer Liebe erzählt, während ihr Vater einen andern für sie zum Mann bestimmt hat.
Dieses Tagewerk ist von einer Brüderlichkeit getragen, die nachsichtig ist gegen menschliche Schwächen, die durchaus wahrgenommen werden – und die auf sehr natürliche Weise beide im Dorf vertretenen Religionen umspannt, Moslems wie Christen. Die Mönche bei islamischen Feiern, die Moslems im Kloster, wie Nachbarn, die einander besuchen. Respekt und Fröhlichkeit, Ernst und Wertschätzung.
Der Rhythmus der Tage aber ist die Liturgie. Gottesdienste der acht Männer in Schlichtheit und Ernst, eine einfache Kirche, Gesänge, Verbeugungen, Stille, Gebet, nach innen gekehrt oder offen, als sprächen sie miteinander. Gerade diese Bilder zeigen: Der Mensch braucht gar nichts anderes. Wenn wir eilige Menschen bereits Unruhe emporkochen fühlen und uns umsehen, was wir versäumen könnten, sind diese Männer noch immer beim Zuhören, und wir können feststellen: es genügt. Es gibt nicht mehr.

Als dann Gewalt auftaucht, als die Bedrohung islamistischer Banden auch im Dorf und im Kloster greifbar wird, da beginnt sich gerade das zu erweisen, was diese acht Männer hält. Und abseits des politischen Hintergrundes, abseits der nun aufkommenden Dramatik, die so im Gegensatz zur vermeintlichen Idylle steht, tritt nun nach und nach eine Männlichkeit und Entschiedenheit hervor, die schließlich in aller Gefasstheit der Gewalt und Gottlosigkeit, dem geschenkten Vertrauen und dem Tod ins Auge blickt. Zunächst zeigt sich das in einer Führungsdiskussion. Dann geht es um den Umgang mit der Angst. Und indem die Männer in großer Freiheit und Ehrlichkeit ihre Alternativen bedenken, eine Rückkehr nach Frankreich, eine Aufgabe des geistlichen Lebens, ein Annehmen militärischer Hilfe durch die Regierung, da verstehen sie erst so richtig, warum sie Mönche und Geistliche sind. „Wir haben unser Leben doch bereits Gott geschenkt“, sagt einer von ihnen. Leben wollen sie alle – aber nicht mit Kalkül, sondern aus Gottes Hand. Genau das ist die Alternative.

Eine der stärksten Szenen ist, als die Islamisten ins Kloster eindringen und den Bruder Arzt holen wollen, um ihre Verwundeten zu versorgen. Der Abt tritt ihm entgegen und setzt ihm auseinander, dass das nicht möglich ist. Er spricht die Sprache des Bandenführers, und er argumentiert mit dem Koran, den er auswendig zitierten kann. So lässt sich der, an dessen Händen Blut Unschuldiger klebt, überzeugen. Dieser feste Blick, diese Klarheit, diese Entschiedenheit und Klugheit: das stammt aus einem geistlichen Leben, aus dem Ringen mit großen Fragen, getragen von einer großen Liebe. Das kann man nicht abtun mit einer beiläufigen Klassifizierung von Märtyrern. Das besteht in jeder Welt.

Samstag, 6. November 2010

Eine Art Krimi. Das Matratzenhaus

Das eine ist die strenge Perspektivik. Als Leser steigst du derart in eine Figur, dass du ihre Weltsicht, ihr Zeitschema, ihre Beziehungen gar nicht mehr verlassen willst. Des Psychiaters Personal auf der Station. Die Söhne, die Frau. Und besonders die Patienten. Wie sie ihn als Menschen herausfordern. Wie er an seinen Grenzen ist. Da zeichnet sich als seine Kompetenz ab, das auszuhalten, die Hilf- und Ratlosigkeit, und dennoch nicht die Nerven wegwerfen und auf Bewährtes zurückgreifen. Gespräche. Das Team. Und Medikamente.
Der andere Mann ist der Kommissar. Auch seine Perspektive ist so streng, dass du sie ungern wieder verlässt. Da lebst du als Leser ein fremdes Leben und siehst mit fremden Augen, als wäre dir alles vertraut. Erst in der zweiten Buchhälfte fallen Bemerkungen über das Äußere einer Figur, und den Leser irritiert es nicht, als hätte er es schon immer gewusst.
Und selbst der Figurenwechsel verursacht zwar Orientierungsaufwand, wirft den Leser aber nicht aus der strengen Perspektivik. Er ist stets eingebettet in die Außensicht der anderen, der Kolleginnen mit ihren Eigenarten, der Frauen und besonders der Kinder.
Und die wären eigentlich das Hauptthema - als Töchter/Söhne der Protagonisten, als Opfer und Patienten, und auch als Protagonistin im Zwischenbereich des Dorfschauplatzes zwischen Klinik und Kommissariat. Und diese, die Kinderperspektive, ist vielleicht das Erstaunlichste dieser Literatur, nämlich ohne jede Psychologisierung und in reflexionsarmer Einfachheit - vielleicht am verwegensten in der grenzgängerischen Konzeption dieses Stücks Literatur.

Und von hier aus das zweite. Denn Kinderperspektivik ist vor allem eine bestimmte Sprache. Eine, die vieles ungenannt lässt. Die für vieles keine Worte hat. Oder falsche. Und diese Wortlosigkeit macht mehr den Krimi aus als der Herr Kommissar. Kinder als Zeugen, die nichts sagen. Kinder, die etwas gesehen haben, und nicht davon reden. Erwachsene, die auf ihre Art mit diesem Nichtreden umgehen. Mal klüger, mal weniger. Und dann vielleicht auf andere Weise hinter das Ungesagte kommen.
Nun, das Ungesagte ist das Zweite in diesem Stück Menschenliteratur. Jeder der Teilnehmer daran, jede Figur des Romans, sowie der Leser und die Figuren seiner eigenen Welt, haben ihre eigene berechtigte Sicht auf die Welt und nehmen sie als ganzes. Aber sie alle, wir alle, wissen nur wenig. Das hält diese Literatur stets offen. Das Ungesagte ist auch ein Ungewusstes, ein Entzogenes, ein Unverfügbares. Das präsentieren die Kinder uns, die Volksschulkinder und die pubertären, diejenigen mit Neonhaaren und Metallbehängen: die vollständige und undurchbrechbare Fremdheit in unseren eigenen Häusern und Dörfern in der Gestalt unserer Kinder. Unbegreiflich.
Das kann nicht einmal ein Krimi auflösen, diese Fremdheit bleibt

Sonntag, 3. Oktober 2010

Exodus

Ein kurzer Moment des Entsetzens im Gesicht, kurz den Blick gehoben, die Augen ins Leere gerichtet. Da hat er in den Abgrund geschaut. Gesehen, wie verloren er ist. Allein auf der Welt, ohne Chance.
Wo sind die Briefe jetzt, wie heißt der Anwalt, was stand darin, und schon fällt er wieder zurück in die Gleichgültigkeit und betrachtet seine Finger.
So sind die chinesischen Bauern, sagt die chinesische Dolmetscherin, sie haben nichts gelernt und keine Ahnung von der Zukunft. In der Schlägerei hat er sich Luft gemacht, dann ist er wieder versunken. Nun weiß er nicht, wo das war, als er den Zug verlassen musste und übers Feld gehen und den Kleinbus besteigen. In Wien ist er angekommen, das weiß er, und wann genau. Eineinhalb Jahre wartet er schon, aber was in den Briefen stand, weiß er nicht, obwohl er es ahnt. Negativ.

Die Kleinstadt, aus der die Dolmetscherin stammt, wird von zwei Millionen Chinesen bewohnt. Yan gibt sich keine Mühe. Er ist 25 und hat ein glattes, offenes Gesicht, in dem alles zu lesen ist, obwohl er nichts preisgibt. Er zappelt ungeduldig auf seinem Stuhl und dreht sich zur Tür. Zwischen den Asylwerbern aus aller Herren Ländern ist er unbeteiligt umhergegangen. Aber in kurzen Momenten zeigt sein Blick, dass er nichts in der Hand hat und keine Chance hat und das weiss.

Ihnen sagen, dass sie alle nicht erwünscht sind in Österreich und in Europa, ihre erstaunten, verständnislosen Blicke. Die Marokkaner und Sudanesen, Nigerianer und Palästinenser, Afghanen und Iraner, Georgier, Russen und Tschetschenen. Ein Sikkh aus Indien, und ein Tibeter aus dem indischen Exil. Fast alle wurden weggebracht. Nach Griechenland ins Elend. Nach Italien in die Arme der Mafia. Nach Ungarn oder Polen in die Hilflosigkeit. Keine Bleibe für keinen. Wenn man sie ausgebeutet hat, ausgequetscht auf den Plantagen, wo unsere billigen Zucchini wachsen, dann werden sie als Illegale zurückgeschickt in den Krieg. Sie glauben das nicht. Verständnislos schütteln sie den Kopf. Und wenn ich sie frage, ob sie vor den Behörden von ihrer Verfolgung erzählen konnten, von der Behandlung im Gefängnis, von den zurückgelassenen Frauen und Kindern, und sie den Kopf schütteln, da wird ihnen klar: keiner wollte das wissen. Es interessiert sie nur, auf welchem Weg sie kamen, denn dorthin müssen sie zurück. Und nun dämmert ihnen, was sie für uns sind.

Und dann wenden sie sich ab und sagen: trotzdem versuch ich es. Ich beginne noch einmal

Samstag, 8. Mai 2010

fisch, ein bericht. christian stuhlpfarrer

1. Blick: Ludwig Adalbert Unselig ist verschwunden. So beginnt der Roman, und rekonstruiert schrittweise, wer Unselig war. Der erzählende Ermittler findet seine zu einem Swimming Pool umgebaute Wohnung, seine Arbeitsstelle im Saal neun, Fossiliensammlung von Meeresbewohnern im Naturhistorischen Museum, dem „Verein zur Erhaltung der Schilfgrasvielfalt am Neusiedler See“, wo Unselig Mitglied war, und schließlich sein rätselhaftes Untertauchen in Albanien, dem Land am Meer.
2. Blick: Die ersten Nachforschungen bei der Fremdenpolizei geben einen Fingerzeig: Eine Flucht von Wien nach Albanien zu erklären obliegt keiner Behörde. Unselig ist genau in umgekehrter Richtung verschwunden, in der sonst Menschen erscheinen. Viele weitere Indizien bestätigen das, die Fossilienkunde, Mitteleuropa im Erdmittelalter, die Zeit, als das Leben aus dem Wasser kam, die Spuren, die es hinterlassen hat, die Wiener Gebäude aus Lethakalk. Zeit wird transparent in beide Richtungen, Evolution vorwärts und rückwärts, Fischwerdung des Menschen.
3. Blick: Frau Mihalvic könnte ein Grund sein, verschwinden zu wollen – zumindest aus Simmering. Ihre eigene Tochter entzieht sich durch Magersucht. Die Hausmeisterin ist eine lästige, aufdringliche Person, die sich beschwert über die Wasserlacken vor Unseligs Wohnungstür.
Herr Jonas ist Zeuge von Unseligs Verschwinden. Aus der gegenüberliegenden Wohnung beobachtet er, wie Unselig Stunden und Tage in seinem Wohnzimmer auf der Luftmatratze schaukelt oder schnorchelt und taucht. Jonas, der biblische Fischexperte.
4. Blick: Unselig selbst dokumentiert seine Fischwerdung mittels Flaschenpost:
Meine Lungenflügel erinnern sich:
Finsternis lag über der Urflut,

schreibt er, tastet sich an das Dämmern des Geistes im Anfang, die Zygote in der finsteren Röhre wie das Seepferdchen im Meer, schließlich das Geborenwerden, als würde man aus dem Wasser gefischt.
Der Himmalaya ist eine Insel, notiert Unselig und prophezeit eine Sintflut, und der Wetterbericht meldet Unwetter in den letzten Wochen des Jahrtausends.
Innen flüssig, weich und glitschig einst.
Ausgelaugt, versteinert, entsaftet nun.

Das Strandgut des Neusiedler Sees, die Paläontologie im Naturhistorischen, die Selbstentsaftung mittels Kiwi-Kur und Schwarztee: die Reduktion des Lebendigen auf Stein.
Wie in den Tagen des Noah, proklamieren die Zeugen Jehovas den Weltuntergang, nachdem sie den Untertaucher herausgeläutet haben.
Die Stadt Wien begrüßt ihre Besucher, die vom Flughafen kommen und am Zentralfriedhof entlang fahren, mit dem Hinweis auf die absolute Fraglichkeit des Menschenlebens.
5. Blick: Unselig geht zugrunde, am See, am Meer, und der Nachforscher hinter ihm her ebenfalls. Die Saurier gingen an der eigenen Masse zugrunde. Zum Grund kommen ist hier kein Eskapismus, es gibt keine unausweichlichen Konflikte, keine Depressionen. Eher, dass die Welt nichtssagend ist, Flaschenstöpsel allenthalben. Verstummen, zum Grund kommen, zurückkommen in das Natürliche, Lebendige, Urwüchsige, ohne Groll, keine Strafe, keine Rache, nur weg.
6. Blick: Eine neue Phänomenologie, Erscheinen und Verschwinden im selben Blick, die überwundene Einseitigkeit des bisherigen Evolutionsverständnisses, in der Erinnerung der Lungenflügel. Weiters: Aufgehen und Untergehen, vom Grund her gesehen, nicht nur im Zeitablauf, sondern als Zusichkommen und Aufgehen in der Welt.
Das europäische Wetterpanorama am Anfang, am Ende als Musilzitat deklariert: die Welt des Mannes ohne Eigenschaften, der im Seinesgleichen ein Fremder ist, der schließlich die Versuche, etwas aus sich zu machen, abbricht und sich selbst zu suchen beginnt: der Unselige hier, erst dann selig, wenn er übereinstimmt mit allem, wie ein Fisch im Meer

Sonntag, 18. April 2010

Wie die Presse funktioniert

Erziehen geht nicht mehr! https://diepresse.com/home/bildung/erziehung/556346/index.do?from=suche.intern.portal

Wenn die Eltern Opfer werden https://diepresse.com/home/bildung/erziehung/559086/index.do?from=suche.intern.portal

Angst vor Eyjafjallajökull https://diepresse.com/home/meinung/kommentare/leitartikel/559062/index.do?from=suche.intern.portal


1.

Am 6. April 2010 ist ein Interview mit Barry Cunningham zu lesen, dem Entdecker von Joanne K. Rowlings Harry Potter-Romanen. Auf der Spur seines Erfolgsrezepts wird zuerst von Firmenstrategien berichtet, mit denen Verlage günstig zu Übersetzungen kommen, sowie in die Nähe zu amerikanischen Verfilmungen, anscheinend dem Höhepunkt verlegerischer Vermarktungsstrategien. Nach dem Potter-Manuskript befragt, nennt Cunningham die Kinderfreundschaften das wirklich Magische, mit denen sie gegen eine feindliche Umwelt zusammenhalten. Befragt nach dem Grund der Überlegenheit angelsächsischer Literatur, sagt er: In anderen Ländern gibt es noch zu stark diese Verhaltensweise, dass Eltern oder andere Personen zu wissen glauben, was für die Kinder gut ist. Diese erzieherische Attitüde funktioniert nicht mehr. Kinder- und Jugendliteratur sei bloß als Teil der Populärkultur zu betrachten. Sie behaupten sich gegenüber der Konkurrenz aus TV und Computer, Partys und Sport, indem sie tragbare Fantasiemaschinen seien, die Erlebnisse ermöglichen. Andere Medien hätten solche Zugänge nur in geringem Maße. Cunningham betont den privaten Charakter des Bücherlesens, dargestellt als dem Haben von Erlebnissen.

Auffällig ist die vorwurfsvolle Formulierung, jemand glaube zu wissen, was für andere gut ist. Das ist natürlich abschätzig gesagt, von einem geschäftstüchtigen Verleger, der die Verkaufstrends richtig einschätzen kann, gesagt an die Adresse solcher, die für andere zu denken versuchen. Allerdings gibt das noch nicht den wirklichen Gegensatz wieder, denn auch der Verleger muss ja für andere denken können, nämlich für künftige Leser, Entwicklungen am Büchermarkt sowie die Bilanzen seiner Firma. Der Unterschied liegt mehr in dem Begriff Erziehung. Denn das Interesse erzieherischen Denkens ist es, dass andere sich selbst finden und dazu kommen, über sich selbst bestimmen zu lernen. Erzieherisches Interesse tritt für bestimmte Werte ein, Werte der Autonomie sowie auch Werte der Solidarität und Empathie. Und selbstverständlich stehen Werte stets in Konkurrenz zu anderen, und ihre Darstellung braucht überzeugende Argumente, und noch besser ihre Erprobung an der eigenen Existenz, also Vorbild und Beispiel.

Nun hat Cunningham aber von erzieherischer Attitüde gesprochen, was ja eine bloß äußere, leere Verhaltensweise ist, ein Tun als ob, der bloße Anschein von Erziehung. Darunter wäre etwa zu verstehen, wenn leer von angeblichen Werten geredet wird, aber Erprobung und Bewahrheitung fehlen. Oder wenn eine bestimmte Haltung nur vorgetäuscht wird, während in Wirklichkeit nur Selbstschutz und Eigeninteressen das Handeln motivieren. Von solchen anscheinend typisch kontinentalen Literaturbeispielen hebt sich nun Cunningham ab. Wodurch? Indem er auf die Fantasie der jungen Leser setzt, die als intimes inneres Erlebnis mit der Solidarität der Gleichaltrigen spielt. Privaterlebnis und Solidarität? Ja, als Fantasie, nicht wirklich. Verbündung von Gleichaltrigen – gegen wen? Gegen die feindliche erwachsene Umwelt natürlich. Cunninghams geniale Strategie besteht somit darin, den jungen Lesern Futter zu geben gegen die Welt, die er selbst repräsentiert, nämlich die Erwachsenenwelt mit ihren geschäftlichen Eigeninteressen auf Kosten der Kinder. Aber das ist ihm nicht vorzuwerfen, weil er es ja offen sagt, und nicht wie die erzieherische Attitüde ein altruistisches Motiv vorgibt. Es darf an den Titel erinnert werden: „Erziehen geht nicht mehr“.

Wie ist die Position des Autors? Barbara Petsch hält mit ihrer Meinung auffällig zurück, stellt einige Informationen über den Buchmarkt und den Jugendfilm bei, jeweils auf Kontinentaleuropa und den angelsächsischen Raum fokussiert, ganz nach dem Deutemuster Cunninghams, das sie also übernommen hat. Damit stellt sie sich eigentlich hinter den Verleger, dem sie auch keine kritischen Fragen stellt, sondern entgegenkommt, damit er sich selbst präsentieren kann. Der Fokus: erfolgreicher Unternehmer, mit beigestellter Vita. Somit wird der Titel als Blickfänger eingesetzt, nicht als Programm, und steht deshalb unter Anführungszeichen – ein Zitat ist er nämlich nicht, zumindest nicht vom wiedergegebenen Interview. Erziehen braucht nicht mehr zu gehen, ist somit die sublineare Botschaft.


2.

Am 18. April desselben Jahres ist Wenn die Eltern Opfer werden erschienen. Die Mama muss das aushalten, wird ein Vierzehnjähriger zitiert, möglicherweise aus dem weiter unten genannten Forschungsbericht der TU Darmstadt. Demnach hätten 10 Prozent aller Familien Probleme mit gewalttätigen Kindern. Auch in den weiteren Beispielen sind es jeweils Mütter, die von der Gewalt ihrer Sprösslinge bedroht sind, sie erscheinen hilflos, mangelhaft gebildet, in trister ökonomischer Situation, als versuchte Freundin des Kindes, resigniert, verschämt, konsumistisch. Bei der Verallgemeinerung wird jeweils von Eltern gesprochen, Väter und Mütter, als Erzieher sowie als Opfer der Kinder erscheinen im Artikel aber niemals Väter.

Bei den Erklärungen stützt sich Doris Kraus auf Martina Leibovici-Mühlberger, Wiener Gynäkologin und Psychotherapeutin, deren Buch jüngst im ORF präsentiert wurde, sowie auf Rotraut Erhard, ebenfalls ORF-erprobte Wiener Psychotherapeutin, die auch als Gerichtssachverständige in Familienfragen tätig ist und eine Untersuchung über Vaterentbehrung vorgelegt hat. Deren Erklärungsversuche: nichtgelingende Eltern- Kindbindung, mangelndes Vertrauen, gestaute Wut, materielle Verwöhnung bei emotionaler Vernachlässigung. Eltern sind nicht imstande, Halt, Sicherheit und Souveränität zu vermitteln. Nun, Psychologinnen geben psychologische Erklärungen, keine strukturellen.

Anlass für den Artikel ist eine Gewalttat einer Vierzehnjährigen, die ihre Mutter erstochen hat, weil sie nicht den Computer benutzen durfte (https://diepresse.com/home/panorama/oesterreich/558150/index.do?from=suche.intern.portal). Jenen Bericht von Manfred Seeh ziert eine Bemerkung der Psychologin Kirstin Lillie, es müsse eine psychische Störung vorliegen, und auf jugendliche Forderungen nach unbeschränktem Medienkonsum solle nicht mit Verbot, sondern mit Erziehung geantwortet werden. Der Rest des Artikels beschäftigt sich mit dem zu erwartenden Strafausmaß.

Die beiden letzten Artikel sind ganz offensichtlich nicht für Jugendliche, sondern für Erwachsene geschrieben, und sie rechnen mit deren Empörung über gewalttätige Jugendliche. Kraus’ Hintergrundbericht gibt eine Elternbeschreibung, die es dem Leser/ der Leserin ermöglicht, sich von solchen Eltern zu distanzieren. Scham, Ungläubigkeit und Verschweigen (Zwischentitel) werden Presseleser doch nicht betreffen? Immerhin liefert der Bericht auch Ratschläge, nämlich Öffentlichkeit zu schaffen und eine Therapie zu machen, sowie zwei (schon erwähnte) Literaturempfehlungen. Die zitierte Erklärung Philip Streits, Der Kontakt zwischen Eltern und Kindern muss schon lange zusammengebrochen sein, wird das Problem wohl auch nicht erschöpfend beantworten. So ist also das Interesse dieses Artikels nicht die Lösung des Problems jugendlicher Gewalttätigkeit, schon gar nicht im Blick auf gesellschaftliche und strukturelle Zusammenhänge, sondern viel mehr, das Erschrecken vor jugendlichen Tätern zu fördern, sowie auch unfähige Eltern an den Pranger zu stellen. Bebildert wird der Artikel in der Printausgabe mit einem quer über die Seite liegenden Bild eines Buben mit einem Küchenmesser in der Hand, sowie mit einem rothaarigen Puppenkopf mit grünen Augen am Sidebar, mit Schöne Vision untertitelt.

Auch dieser Bericht handelt also von Erziehung, die nicht stattfindet, weil sie unmöglich geworden ist. Hat zuerst ein Unternehmer sich über eine erzieherische Attitüde lustig gemacht, so spielt der jüngere Text mit dem Entsetzen der Leser, entweder als Beobachter, oder als Betroffener. Niemals ist der Autor mit den Erziehern selbst solidarisch, sondern er steht ihnen gegenüber und verteilt Bonmots und Ratschläge. Der Unterhaltungswert der Texte geht auf Kosten der ErzieherInnen, die mit jenen Jugendlichen zu tun haben.

3.

Christian Ultschs Leitartikel vom 18.4. zum isländischen Vulkanausbruch – und noch mehr zum europäischen Luftfahrtschaos gibt sich gleich zu Beginn recht launig. Die unterschiedlichen Prognosen zum weiteren Verlauf der Eruptionen kommentiert Ultsch mit ebenso unberechenbar wie Chefredakteure – was als selbstreferentielle Bemerkung aufhorchen lässt. Die Vorsicht der Fluggesellschaften nennt er: Ganz Europa macht sich prophylaktisch in die Hosen.
Aber Ultsch denkt strukturell und referiert Triebwerkprobleme bei zwei Vulkanvorbeiflügen 1982 und 1989. Da aber in der Nähe von Wien Schwechat keine Vuilkaneruptionen gemeldet seien, wäre übertriebene Vorsicht überflüssig. Die neun Vulkanascheberechnungszentren seien ausdrücklich kein Witz, aber gerade deshalb nachdrücklich als lächerlich dargestellt.
Als Hauptargument und als Boden der Tatsachen erscheinen nach sovielen Spekulationen über angebliche Gefahren die Millionenverluste der Fluggesellschaften. Also nicht die Sorgen der gestrandeten Passagiere, nicht die unvorstellbare Masse von 30.000 Flügen pro Tag in Europa. Keine Berechnungen des CO2-Austosses, der Lärmbelästigung oder alternativer Transportmittel. Stattdessen 200 Millionen Dollar Betriebsverlust pro Tag, bei bagatellisierten Gefahren.
Nun, es ist leicht auszumalen, wie Ultsch urteilen würde, käme es zu Unfällen bei einem trotz Aschewolke fortgeführten Flugbetrieb. Zur Empörung über Unfallopfer käme die Häme über missachtete Warnungen, verbunden mit der Forderung nach Konsequenzen für die Fluggesellschaft und ihre Verantwortlichen. Ultsch steht natürlich nicht auf der Seite der Verantwortung, sondern der Ungeduld von Reisenden sowie der Geschäftsinteressen. Dafür kann Ultsch ebenso wenig zur Verantwortung gezogen werden wie derjenige, der die Flugzeuglandung bei Katyn trotz widriger Umstände veranlasst hat.
Übrigens: Wo bleibt der journalistische Nachdruck bei der Suche nach Blackbox und Voice-Recorder, um die Unglücksursache zu finden? Kein Interesse an der Wahrheit?

Dienstag, 2. März 2010

Avatar, gesehen

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Eine Paraphrase auf die Indianer könnte das sein: eine späte Entschuldigung für ihre Ausrottung, ein barocker Western sozusagen, in aller möglichen Üppigkeit. Mit den Ausdrucksmitteln von Walt Disney, mit den großen Bambi-Augen am Rande des Untergangs, in alter amerikanischer Tradition.
Eine Verbeugung vor der Naturverbundenheit der Naturvölker, die aber eben amerikanisch gesehen wird, also Geister und Ahnen mittels Einloggen in den pflanzlich-tierischen Säftekreislauf; der Schwanz als iPhone.
Übrigens gab es nirgends Körperbehaarung, nur gefiederte Flugsaurier und schorfige Drachen, oder schwebend tanzende Schmetterlingsquallen - das hat mich gleich meine Katze gelehrt beim Heimkommen, und an ihrer Botschaft war auch ohne Einloggen kein Zweifel: Hunger!
Dass die Verbeugung nicht ehrlich ist, sondern selbstgefälliger leerer Gestus, verrät die Ästhetik: Die Na'vi, bizarr schlank und hochgewachsen, entsprechen einem westlichen Schönheitsideal, haben hingegen mit den Frauen Sitting Bulls soviel zu tun wie meine schwarze Katze mit einem Pekinesen. Eher könnte man an Winnetous Schwester Nschotschi denken, oder an die Freundin dessen, der mit dem Wolf tanzt - so wünscht sich der Westen die Natur: schlank und so begehrlich und unnahbar wie unverständlich.
Was mich beeindruckt hat, war die Massenästhetik der kaugummikauenden Marines, die in ihren Militärstiefeln und Rüstungen jede Intelligenz niedertrampeln, und die sich im Kinosaal als erdrückende Übermacht an mit vorbeidrängte, bereits vor Beginn, als ich mich im Halbdunkel auf der Suche nach einer Toilette durch die Warteschlangen vor den Snack-Theken und das Stakkato von Soundtracks und Lichtblitzen drängen musste, als gehörten sie alle mit zum Film, mit dumpfen Gesichtern, blind und taub für die Umgebung, Popcorn mampfend und verstreuend - als sie am Ende brabbelnd hinausquollen, dachte ich zuerst an die trampelnden Nashörner, und erst als die Karossen am Parkplatz angeworfen wurden, waren sie wieder die Marines, die wie herumballernde Cowboys über Indianerdörfer hereinbrachen.

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Jake Sulli ist der Protagonist und die Identifikationsfigur, und hier beginnen die Rätsel. Er wechselt die Seiten, der Invalide wird zum Kämpfer, der Spion zum Liebenden, der Soldat zum Forscher. Er positioniert mit seiner Wende die Sympathien des Films so eindeutig und lässt die blinde und rücksichtslose Macht der Technik und des Geldes so eindeutig auflaufen, dass man sich genieren müsste, wenn sich herausstellt, dass man zu denen gehört.
Kinomäßig kämpft David gegen die Übermacht der Philister, und gegen einen monströsen Goliat. Seit Jahrzehnten wird er dabei von Film zu Film teamfähiger. Aber diese so vollständige Umwandlung lässt doch einige Fragen offen - obwohl die Schnelligkeit und Rastlosigkeit der Szenenfolge nicht gerade auf tiefere Botschaften zielt, sondern jedenfalls auf emotionale Überwältigung.

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Die nachhaltigste Wirkung scheint in der Leichtigkeit und Behendigkeit der Bewegungen der Na'vi zu liegen, die wie Eichkätzchen durch die Baumkronen laufen - und Jake lernt das. Die Gesten sind klar, die Ausdrucksbewegungen ungekünstelt, die Sorgen und Freuden der Naturmenschen geradeheraus. Die katzenartige Anmut Neytiris zeigt sich bereits in der verächtlichen Zurückweisung des zudringlichen Tolpatsches, und entfaltet sich in der amazonenhaften Demonstration ihrer Natur- und Kriegsbeherrschung. Berührend und filmbeherrschend ist, wie die Königin der Baumkronen und Abgründe den kindhaften Eindringling nach und nach zähmt und unterweist, fein gesetzt die Szenen, wenn sie ihm stolz über die Schulter schaut und sich an seinen Fortschritten freut. Vielleicht ist es diese Beziehungsästhetik, der die blauen Figuren dienen, der offene, gelbäugige Blick, das Misstrauen wie das spätere freie Einverständnis. Eine Wohltat, nach den Unmengen hochneurotischer Frauen- (und Männer-) Gestalten Hollywoods, nach all der Coolnes und den nervigen Beziehungsdreiecken. Die ungezwungene Natürlichkeit der Mulattin Zoe Saldanas scheint wesentlich den Film zu tragen, indem sie eine Brücke zur Natur baut sowie zu ihrem Volk, das sich indianergleich argwöhnisch um den Weißen schart - wie in "Der mit dem Wolf tanzt", um ihn schließlich einzugliedern und unter seiner Führung gegen seine eigenen Leute zu kämpfen.

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Nocheinmal zurück zu Jake. Seine Wandlung beginnt ja bereits als Gewinn der dritten Dimension: Der Rollstuhlfahrer bekommt Beine, und beginnt zu rennen - nun kommt er allmählich auch menschlich in Fahrt. So scheint auch die 3D-Technik gerechtfertigt, die sich nach dem militärisch-metallischen Grau nun in eine aberwitzige Farbenpracht und Raumtiefe auftut, sodass kein Fuß mehr platt am Boden stehen kann, ohne sogleich von schimmernden Ranken umwoben zu werden. (Wenigstens kann Neytiri gut Menschensprache, damit die Untertitel nicht immer so dümmlich zwischen den Bäumen herumstehen müssen) Alice im Wunderland sowie das Dschungelbuch scheinen Pandoras Vorläufer zu sein. Aber auch die Alliens, die wie üblich Sigourney Weaver nachgereist sind, haben sich gewandelt: keine grauenhaften, ekeligen Ungeheuer mehr, sondern hochtechnisierte, coole, menschliche Ungeheuer, die heuschreckenhaft über das Paradies hereinbrechen und es zerstören.
Jakes Wandlung wird Schritt um Schritt vollständiger. Und nachdem aus dem coolen Soldaten ein verliebter Na'vi geworden ist (ist das überhaupt eine Wandlung: von der Marine zur Navy?), wird zuletzt die bis dahin nur technisch ermöglichte Wandlung dann auch naturell vollzogen: eine Transsubstantiation. Aus einem wird ein anderer.

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Eigentlich könnte das ja Metapher genug sein für einen Film. Aber es ist so beiläufig gesetzt, knapp vor Schluss, und dem Kulturkampf so untergeordnet: nur mehr Draufgabe. Und um wirklich Wandlung darzustellen, bräuchte es entschieden mehr Geist - da muss Graze recht gegeben werden. Denn der Schamanismus der Eingeborenen wird ganz materiell verstanden, die Urmutter als Telefonvermittlerin und die Liturgie als Ballett, dass man eigentlich auch nicht ernsthaft erwarten kann, dass der Kinobesucher gewandelt aus dem Saal geht.
Dann nehmen wir die Natur als Metapher: Der Urwald wie ein einziger, lebender Organismus, Natürlichkeit als ursprüngliches aus-sich-heraus-Sein seiner Bewohner, in Anmut und Unbefangenheit (Tarzan), und (das ist der moralische Zeigefinger) in Einheit mit dem Ganzen. Könnte ein stimmiges Modell sein, das als Utopie unsere technisierten Erdenbewohner zur Umkehr bewegt. Allein: Nachahmung ist unmöglich, wie soll denn Pandora erreicht werden, solche Fans, die nicht ins falsche Leben zurückkehren wollen, denken an Suizid (siehe Fan-Blogs). Wer denkt schon an ein Survival-Camp oder an eine Bergtour? Nein: Das ursprünglichkeitsstrotzende Pandora ist ein hochartifizielles Gebilde, voller drahtloser Leuchtgirlanden, von Klonen durchstreift, die mittels Ganzkörperscanner betrieben werden. Ein Urwald auf technischer Basis aber ist ein Disney-Land, oder vielleicht ein Jurassic-Park: Und nach Aussagen von Kinobesuchern wird auch mehr über die farbenreiche Tricktechnik gestaunt als über die scheinbare Ursprünglichkeit. Jedenfalls subversiv.

Und das bleibt nun: Diesmal hat das Gute noch gesiegt über den Menschen - aber er wird gewiss wiederkommen. Gut wird, wer den Menschen loswird - falls das gelingt.

Samstag, 7. November 2009

Die ungeschriebene Theorie der Präsenz

1. Annäherung.

Es würde darum gehen, eine Qualität menschlichen Seins zu beschreiben und als unabdingbar zu seinem Wesen gehörig auszuweisen. Der Mensch ist nicht wie ein Ding vorhanden, sondern er ist auf irgendeine Weise anwesend in seiner Welt - ja eigentlich könnte sogar umgekehrt gesagt werden, seine Welt entsteht geradezu aus seiner Anwesenheit.
Diese eigentümliche Anwesenheit ist jahrtausendelang Geist genannt worden, und zwar als menschliche Fähigkeit und Kraft, anwesend zu sein mit Willen, Gestaltungskraft und Überlegung, aber auch als unfassbare außermenschliche Anwesenheit in der Natur, in ihren Kräften - eine Anwesenheit, die der Mensch mit den Geistern teilen musste. Anwesenheit ist so deutlich erfahrbar wie das Sichtbare, ja auch im Sichtbaren, die Anwesenheit macht gerade erst das Sichtbare interessant, sodass es uns anspricht und uns etwas sagt. Ein gemaltes Stilleben öffnet dem westlichen Menschen eine Präsenz der Dinge, die dem ursprünglichen Menschen noch selbstverständlich war.
Eine flache Kinoleinwand verstrickt die Zuschauer in Leidenschaften, die von Gesichtern, Bewegungen und Worten ausgehen, und er wird berührt von eigenen und fremden Sehnsüchten und Ängsten. Die Verehrung des Darstellers, auch wenn er ohne Maske ist (ist er das je?) - ja gerade die Lust, hinter die Maske zu sehen, sucht gerade seine professionelle Fähigkeit der Präsenz, in diesem oder jenem Zusammenhang.
Vielleicht hat erst diese öffentliche Präsenz der Schauspieler die Wahrnehmung der Ahnen verdrängt, und all der Geister, Engel und Dämonen, die Tag und Nacht den Lebenskreis bevölkerten - so wie heute die lebensprallen Zeitungsnachrichten, vom Rand her.

2. Anfänge

Bezeichnenderweise nahm auch das philosophische Denken bei der Präsenz des Ganzen seinen Anfang, die im Feuer, im Wasser oder sonst in einer Kraft gesehen wurde, die den Kosmos durchwirkt. Ihre innere Richtigkeit faszinierte die Denker, obgleich die Präsenz sich bei jedem Zugriff sogleich um eine Linie zurückzog - das ist bis Einstein und den heutigen Physikern so geblieben.
Auch heute noch wirken offenes Feuer und fließendes oder still liegendes Wasser stark auf Menschen ein, die aus ihren synthetischen Welten in die Natur fliehen, von einer schweigenden Präsenz angezogen.

3. Die Religionen

Die Religionen fanden wohl die deutlichsten Antworten auf die wahrgenommene Präsenz, weil sie sie zunehmend als personale Anwesenheit von Göttern ansprechen konnten. In den alten Religionen ist die gemeinsame Anwesenheit von Göttern und Menschen typisch, auch in den ersten Genesiskapiteln, oder im Abraham-Erzählkreis ist das erkennbar. In den großen Religionen wird dagegen diese personale Präsenz immer stärker als souveräne Anwesenheit wahrgenommen. Das geht vielleicht einher mit der Souveränität der Großkönige, die mehrere Völker beherrschen konnten mit einem starken Willen und einer weitsichtigen Organisationskraft - aber es führt von dort ein Weg zur westlichen Bedeutung der individuellen Freiheit, deren Souveränität mit der Gottes nun ebenbürtig erscheinen kann.
Andere Kulturen, z.B. die indische, haben die Präsenz nicht so sehr auf das Individuum konzentriert, weder bei Gott noch in der Gesellschaft - obwohl auch dort dieselbe Tendenz zu bemerken ist.

4. Zeit

Sehr erstaunlich, dass es kaum einer unternommen hat, einen umfassenden Begriff von der Präsenz in zeitlicher Hinsicht darzulegen, wo doch das deutsche Wort Gegenwart in beide Richtungen weist: jetzt dasein, im Unterschied zu früher oder zu einem späteren Zeitpunkt - aber auch in deiner Gegenwart etwas sagen, sodass du es hören kannst. Vielleicht ist Heidegger in der Nähe gewesen, aber er hat das sich zeitigende Sein nicht personal ansprechen können, wodurch allein vermeidbar gewesen wäre, ein Seiendes daraus zu machen. Umgekehrt ist womöglich die personaldialogische Philosophie, wie sie z.B. Levinas vorträgt, wohl zu einem grundlegenden Verständnis des Du gekommen - aber gerade nicht als Gegenwart, sondern als uneinholbare Zukunft, als welche der Andere stets entzogen bleibt.
Im Gegenteil, was gegenwärtig unter Zeit verstanden wird, Fortschritt, Entwicklung, Evolution, wird immer stärker völlig apersonal angelegt - und dieses Denken erweist sich in einer umfassenden Beschleunigungsbewegung, die über Menschenschicksale, sowie die Befindlichkeit ganzer Länder und Völker rücksichtslos hinweggeht. In dieser Hinsicht besteht zwischen der gegenwärtigen wirtschaftlichen Globalisierung und der nationalsozialistischen Ideologie gar kein großer Unterschied - jeweils geht es darum, dem (eigenen) Fortschritt alles andere unterzuordnen, also den Menschen verfügbar zu machen für den Fortschritt der Zeit. Auch die bereitwillige Unterordnung der Massen unter das jeweilige Diktat von Zeit ist vergleichbar: erstaunlich, wie mühelos sich Menschen von Wirtschaftszwängen und Modediktaten gängeln lassen. Schmeichelhaft wird auch diese gegenwartsarme Zeit mit Zeitgeist angesprochen.

5. Scheinpräsenz/Präsenzschein

Am deutlichsten wird die Sache werden, wenn von den Schein- oder Ersatzformen von Präsenz die Rede ist. Einem jungen Hund, der nicht allein zu Hause bleiben will, stellt man einen tickenden Wecker ins Kistl: das mag ihn an den Herzschlag des Muttertiers erinnern und gibt ihm jedenfalls das Gefühl, nicht allein zu sein. Kindern stellt man mit dem selben Ziel den Fernseher an. Die "Präsenz" aus Licht und Geräuschen, aus einfachen Handlungen und einfach generierten Gefühlen nimmt sie in Anspruch und lässt sie in ein Geschehen eintauchen, als Zuseher und Mitspieler (Mitfühlender). In türkischen Haushalten habe ich oft laufende Fernsehapparate gesehen, ohne dass irgendjemand auf den Bildschirm sah - es genügte das Geräusch, und dass dort unablässig etwas vorging. Diese stetige Produktion von beiläufiger Bedeutung suggerierte ein belebtes Haus. Ich selbst lasse gern das Licht brennen, wenn ich aus dem Haus gehe, um andern ein bewohntes Haus zu präsentieren, und selbst bei der Rückkehr kein leeres betreten zu müssen. Ähnliche Wirkungen haben Kinderzeichnungen an der Wand - ja Bilder überhaupt: Es ist Bedeutsamkeit und Präsenz, die so in einer Wohnung angereichert wird.
Ähnliches wird vom Radio zu sagen sein, Ähnliches auch von der Musik, wobei es große Differenzen in den Arten des Hörens und "Hörens" gibt. Die maschinelle Berieselung erinnert wohl eher an den Hundewecker als an ein Konzert oder ein Gespräch. - Gerade an der Form eines Gespräches tritt aber die bestimmte Form der Präsenz sehr deutlich hervor: am Interesse am Gesprächspartner, am Zuhören, an der Erwiederung, am Diskursniveau.
Daraus ließen sich unschwer Kriterien für die Präsenz entwickeln: ob sie nämlich eine personale Begegnungsdimension aufweist - oder eine solche abweist.

6. Dichte Präsenz

Ich kenne zwei Beispiele für eine deutlich wahrnehmbare Präsenz. Zuerst die Musik. Das eigentümliche an dieser Kunstform ist, dass es sie jeweils nur einmal gibt. Alles, was erklingt, gibt es nur im Augenblick. Man kann das bewundern mit dem Blick auf die Musiker: im Orchster, als Solisten, immer brauchen sie einen besonderen Sinn für den richtigen Moment. Da gilt es, Takte zu zählen, zuzuhören, die eigene Tonproduktion zu beherrschen. Gerade komme ich von einem Konzert zweier Musiker, die zum ersten Mal miteinander spielten und gerade heute erst zusammen gekommen waren. Konzentrierter Blick auf die Noten: eine Seite für ein 10 Minuten-Stück! Immer wieder ein Blick zum anderen, manchmal eine Handbewegung, ein Kopfnicken. Es sind Millionen Momente, die ganz genau kommen müssen! Große Beherrschung der Fingertechnik, der Rhythmen, des Instruments, und auch des Stücks. Und dann große Freiheit im Ausdruck, und in der Anspannung dann wieder große Gelassenheit, ja spontane Freude über dieses oder jenes glückliche Zusammenstimmen, wie das kurze Aufleuchten eines Meteoriten. - Und ebenso die Zuhörer, konzentriert, freudig, bewegt, ergriffen von lauter Momenten, die Stücke entlang fühlend, mit ihren lauten Höhen und zirpenden Stillen - und am Ende jeweils laut aufatmend mit den Händen.
Aber auch das Ereignis als solches ist von unvergleichlicher Einzigartigkeit. Gewiss, man kann Aufnahmen machen - ich hätte gern welche: aber dann, zuhause, ist die Präsenz bereits viel schwächer, obwohl die Musik gleich gut ist. Es bedürfte einer eigenen, besonderen Inszenierung, um eine ähnliche Aufmerksamkeit aufzubauen wie beim Livekonzert. Das braucht es nämlich für die Präsenz: gestimmte, aufmerksame Hörer, mit einem Gefühl für das, was kommt. Egal, ob Konzertsaal oder Cafehaus, Jazzklub oder Kirche. -

Und nun das zweite Beispiel, die Liturgie. Auch hier Musik - vielleicht nicht immer so professionell, aber mitgesungen, eine andere, womöglich viel intensivere Art der Teilhabe als bloßes bewegungsloses Hören. Aber die Musik nur ein Zeichen für etwas anderes, eine Einbettung mehrerer anderer Präsenzen. Zunächst die Gemeinde, die sich bis zum Beginn langsam aufbaut, die Mitarbeiter, die ihre Positionen einnehmen, sich noch absprechen, vorbereiten, noch manchmal eine Irritation. Dann das Erscheinen von Assistenz und Zelebrant, der Einzug, die Umrundung der Gemeinde, Blickkontakte. Mit erschienen heute ein Taufkind, wie mit der Sänfte getragen. Die ersten Worte, die weiter Präsenz aufbauen, an aktuellen Ereignissen anknüpfen, auf die Schrifttexte vorbereiten, vielleicht eine Frage aufwerfen, die von der Schrift oder von der Predigt beantwortet würde. Das Kyrie, das Gloria, Aufrichten der Gemeinde mit Christus, Öffnen der Wahrnehmung für das Wort - das ewige, das nicht vergeht (heutiges Evangelium), das aber ergeht an diesem heutigen Tag, zu dieser Stunde (und zwar gewissenhaft vorbereitet von den Lektoren). Wer jetzt nicht hört, versäumt. Wer jetzt noch mit sich selbst beschäftigt ist, bleibt unberührt. Denn das Wort dringt ein und bewegt, und es will verändern, erneuern und bekehren. - Das ist die zweite, die dritte Präsenz: wer da spricht, wer da verändert.
Sinnbild dieser Präsenz ist wieder eine Zeitform: einsetzend mit einer Erzählung (am Abend nach dem Mahle) baut sie sich auf: Nehmet und esset alle davon: ein präsentischer Auftrag, eine Aufforderung, ein Ansprechen der Anwesenden (das auch um die Abwesenden weiß), dass sie entgegnen, dass sie mitsprechen, mit lobpreisen, dass sie herkommen und empfangen. Und noch einmal: Seht das Lamm Gottes..., damit sie auch wirklich herschauen und sich dabei selbst empfinden als das, was sie vor ihm sind.
Vielleicht ist es nirgends sonst so deutlich: pure Anwesenheit, zwischen den Worten, in den Zeichen, in aller Stille und Aufmerksamkeit.
Und wenn dann noch Kinder stehen, und Jugendliche, gerade an diesem Tag in dieser Weise zusammengewürfelt, rund um den Altar, mit den Händen erhoben, aufrecht, alle in zufälliger Reihenfolge, aber alle hingeordnet auf das stille Geheimnis, das sich da an dem Tisch vollzieht. Und wie der Priester da still steht, und die ganze Gemeinde, aufrecht, und sieht das Lamm, sieht ein Brot, und weiss, das Brot/das Lamm ist die Antwort: ist die Präsenz, welche die eigene berührt, umfasst und einschließt, bis hin zur Bekehrung. Da ist es eine bewegte Gemeinde, in aller Stille, die nicht für die Ohren mehr ist.

Wenn auch bei uns die Gemeinde kleiner wird: Wahrscheinlich sind wir da zuwenig präsent in den Häusern und Gasthäusern und allen möglichen Stätten, das mag sein. Immerhin lassen wir uns im öffentlichen Raum nicht ganz zur Seite drängen von all der Nullpräsenz, wie sie bald zur Weihnachtszeit hervorquellen wird. - Aber an unsrem Initiationsort, im Gottesdienst, da entfalten wir die Präsenz, und das teilt sich mit. Wer da nicht mehr kommt, der meidet eher die Präsenz, weil er nicht antworten will, weil er noch zögert - oder weil es anderswo billiger geht. Präsenz ist geschenkt, aber nicht billig.


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Mittwoch, 16. September 2009

Ein neuer Mensch

Ich bin nach langer Zeit wieder einmal im Einkaufszentrum. Ein Vorteil ist die unproblematische Zufahrt mit dem Auto. Ich suche Schuhe, die ich in den letzten Schuhgeschäften in der Stadt nicht mehr finden konnte, weil alle ihr großes Sortiment abgezogen haben und ins Einkaufszentrum verlegt. Ich suche einige Minuten auf zwei Etagen nach einem Schuhgeschäft – weil ich die Örtlichkeiten nicht so genau kenne. In der gleichen Zeit hätte in die Villacher Innenstadt mit dem Fahrrad durchquert.
Ich sehe Menschen, die plaudernd Verkaufszonen durchstreifen, ohne zu registrieren, wo sie sich befinden. Die Geschäfte haben keine Eingangstüren: daher grüßt auch niemand beim Betreten oder Verlassen des Geschäfts. Die Angestellten sitzen wie betäubt an der Kassa oder schlichten stumm und unbeteiligt Ware in die Regale. Nicht identifizierbare Musik plärrt aus unsichtbaren Lautsprechern, ein Springbrunnengeplätscher verstärkt das Hintergrundrauschen, Stimmengeraune kommt dazu. Von verschiedenen Ecken wehen Düfte von Bratfett oder Kaffee und beschleunigen meine Suche. Kinder gereizter Eltern laufen die Reihe von beleuchteten Glasstäben auf und ab und bringen sie zum Schwingen, als wären es Farnwälder. Manchmal sehe ich ein bekanntes Gesicht, oft peinlich berührte Abwendung des Blicks, oft kurzes Zunicken im Vorbeihuschen. Auf der Rolltreppe abwärts stehend, sehe ich jene Burschen umherziehen, die sich noch letztes Jahr regelmäßig auf unserer Fußballwiese getroffen haben: ich kann nicht erkennen, was sie hier tun.

Ich betrete die Verkaufsfläche des gesuchten Geschäfts, niemand nimmt von mir Notiz. Ich spreche eine unbeirrt Regale einschlichtende Verkäuferin an, sie schickt mich in den hinteren Teil des Geschäfts. Dort ist eine andere Verkäuferin mit einer Familie beschäftigt, sie nimmt minutenlang keine Kenntnis von mir. Als nach und nach andere Kunden hinzutreten, ruft sie Verstärkung, schreit, brüllt einige Male den Namen der vorher angetroffenen Verkäuferin, bis diese herläuft und wortlos Schuhkartons schlichtet. Nach einigen Minuten spreche ich sie an, sie erschrickt und blickt mich an, als würde sie aus einem Traum erwachen – und gibt mir die gewünschte Auskunft. An der Kassa steht breit vor mir ein lautstark telefonierender Kunde. Es ist nicht klar, ob er den Zahlvorgang schon beendet hat, ein Geldschein liegt am Tisch, er schwingt einen Plastiksack, minutenlang, stumm schauen die Verkäuferinnen zu und tauschen Blicke. Später erfahre ich, dass die Verkäufer oft zwölf Stunden im Geschäft sind und nicht wissen, ob draußen die Sonne scheint oder es regnet, wie heute.

Ich habe in Einkaufszentren immer den Eindruck, als ob die Menschen hier in Hypnose wären: wie ferngesteuert, von Bildern und Markennamen hierhin und dorthin gezogen, ihre menschlichen Qualitäten vergessend. Geschäftig, quasselnd, ihre Umgebung ignorierend. Oder aber es sind andere Menschen. Solche, die hier erzeugt werden, großgezogen, die sich hier ausbreiten, unter Musikberiesel und Rolltreppengeschiebe, die keine Sonne mehr kennen und kein aufmerksames Gespräch von Angesicht zu Angesicht. – Später treffe ich auch im Wald solche, die sich brüllend unterhalten, andere, die versunken mit Kopfhörern vorbeihuschen, und nur der hervorquellende Lärm bestätigt, dass sie wirklich da waren. Ich habe auch in Jugendzimmern schon Wesen mit kleinen Augen gesehen, die auf Glasscheiben starrten und beim Grüßen nur einen Grunzton von sich gaben. Kinder sind die Hälfte meines Besuchs damit beschäftigt, auf die Mutter einzureden und sie zu irgendetwas zu überreden. Und Erwachsene kenne ich, die suchen sich einen Partner im Internet nach Körpergröße, Monatsverdienst und Essensvorlieben, wie ein neues Auto. Und andere gehen ins Fitnessstudio, um ihren Brust- oder Taillenumfang zu vergrößern oder verkleinern, oder zum Chirurgen. Ein neuer Menschenschlag breitet sich aus in der Stadt, als würde er synthetisch erzeugt, aber niemand wills gewesen sein, niemand ist dafür verantwortlich. Still und unbemerkt nimmt er die Stadt in Besitz, nur in die Kirche scheint er noch nicht gekommen zu sein.

Ich wollte sicher sein, dass ich nicht vergeblich laufe oder gelaufen bin

Gal 2, 2

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