fisch, ein bericht. christian stuhlpfarrer

1. Blick: Ludwig Adalbert Unselig ist verschwunden. So beginnt der Roman, und rekonstruiert schrittweise, wer Unselig war. Der erzählende Ermittler findet seine zu einem Swimming Pool umgebaute Wohnung, seine Arbeitsstelle im Saal neun, Fossiliensammlung von Meeresbewohnern im Naturhistorischen Museum, dem „Verein zur Erhaltung der Schilfgrasvielfalt am Neusiedler See“, wo Unselig Mitglied war, und schließlich sein rätselhaftes Untertauchen in Albanien, dem Land am Meer.
2. Blick: Die ersten Nachforschungen bei der Fremdenpolizei geben einen Fingerzeig: Eine Flucht von Wien nach Albanien zu erklären obliegt keiner Behörde. Unselig ist genau in umgekehrter Richtung verschwunden, in der sonst Menschen erscheinen. Viele weitere Indizien bestätigen das, die Fossilienkunde, Mitteleuropa im Erdmittelalter, die Zeit, als das Leben aus dem Wasser kam, die Spuren, die es hinterlassen hat, die Wiener Gebäude aus Lethakalk. Zeit wird transparent in beide Richtungen, Evolution vorwärts und rückwärts, Fischwerdung des Menschen.
3. Blick: Frau Mihalvic könnte ein Grund sein, verschwinden zu wollen – zumindest aus Simmering. Ihre eigene Tochter entzieht sich durch Magersucht. Die Hausmeisterin ist eine lästige, aufdringliche Person, die sich beschwert über die Wasserlacken vor Unseligs Wohnungstür.
Herr Jonas ist Zeuge von Unseligs Verschwinden. Aus der gegenüberliegenden Wohnung beobachtet er, wie Unselig Stunden und Tage in seinem Wohnzimmer auf der Luftmatratze schaukelt oder schnorchelt und taucht. Jonas, der biblische Fischexperte.
4. Blick: Unselig selbst dokumentiert seine Fischwerdung mittels Flaschenpost:
Meine Lungenflügel erinnern sich:
Finsternis lag über der Urflut,

schreibt er, tastet sich an das Dämmern des Geistes im Anfang, die Zygote in der finsteren Röhre wie das Seepferdchen im Meer, schließlich das Geborenwerden, als würde man aus dem Wasser gefischt.
Der Himmalaya ist eine Insel, notiert Unselig und prophezeit eine Sintflut, und der Wetterbericht meldet Unwetter in den letzten Wochen des Jahrtausends.
Innen flüssig, weich und glitschig einst.
Ausgelaugt, versteinert, entsaftet nun.

Das Strandgut des Neusiedler Sees, die Paläontologie im Naturhistorischen, die Selbstentsaftung mittels Kiwi-Kur und Schwarztee: die Reduktion des Lebendigen auf Stein.
Wie in den Tagen des Noah, proklamieren die Zeugen Jehovas den Weltuntergang, nachdem sie den Untertaucher herausgeläutet haben.
Die Stadt Wien begrüßt ihre Besucher, die vom Flughafen kommen und am Zentralfriedhof entlang fahren, mit dem Hinweis auf die absolute Fraglichkeit des Menschenlebens.
5. Blick: Unselig geht zugrunde, am See, am Meer, und der Nachforscher hinter ihm her ebenfalls. Die Saurier gingen an der eigenen Masse zugrunde. Zum Grund kommen ist hier kein Eskapismus, es gibt keine unausweichlichen Konflikte, keine Depressionen. Eher, dass die Welt nichtssagend ist, Flaschenstöpsel allenthalben. Verstummen, zum Grund kommen, zurückkommen in das Natürliche, Lebendige, Urwüchsige, ohne Groll, keine Strafe, keine Rache, nur weg.
6. Blick: Eine neue Phänomenologie, Erscheinen und Verschwinden im selben Blick, die überwundene Einseitigkeit des bisherigen Evolutionsverständnisses, in der Erinnerung der Lungenflügel. Weiters: Aufgehen und Untergehen, vom Grund her gesehen, nicht nur im Zeitablauf, sondern als Zusichkommen und Aufgehen in der Welt.
Das europäische Wetterpanorama am Anfang, am Ende als Musilzitat deklariert: die Welt des Mannes ohne Eigenschaften, der im Seinesgleichen ein Fremder ist, der schließlich die Versuche, etwas aus sich zu machen, abbricht und sich selbst zu suchen beginnt: der Unselige hier, erst dann selig, wenn er übereinstimmt mit allem, wie ein Fisch im Meer

Ich wollte sicher sein, dass ich nicht vergeblich laufe oder gelaufen bin

Gal 2, 2

Hallo Besucher!

Hinterlass doch deine Meinung zu dem, was ich hier preisgebe!

Aktuelle Beiträge

Lipus
Lieber Weichensteller: Du schreibst: ...große Literatur...
blitzlicht - 4. Aug, 17:56
Planetentheologie
Anstatt die Galaxien zu durchstreifen wie seinerzeit...
weichensteller - 15. Apr, 21:16
Was ist um Werner Pircher?
D.U.D.A. bringt es wieder zu Tage, dass man ihn zu...
weichensteller - 5. Apr, 12:08
Licht in Sarajevo
Überall Neonlicht, weißblau, weißgrün, kalt, gespenstisch,...
weichensteller - 19. Feb, 14:35
Bostjans Flug
Endlich wieder richtige Literatur. Nicht nur erzählte...
weichensteller - 1. Dez, 20:56

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Status

Online seit 6658 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 4. Aug, 17:57

Credits

wer kommt

Free counter and web stats

bibel
des menschen überdrüssig
essays
fragen über fragen
gedicht
kino
musik
predigten
presse
rand
texte
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren
development