halbe welt gesehen
Halbe Welt, 6 Uhr morgens: Sirenen heulen. Die Straßen leeren sich. Fenster werden verdunkelt. Menschen flüchten unter die Erde.- Die Sirenen verstummen. Stille. Über der leblosen Stadt taucht die Sonne auf und wirft ihr tödliches Licht auf die Halbe Welt. 12 Stunden später: Sonnenuntergang, Entwarnungssirenen, das Leben beginnt- Gute Nacht. Der Film zeigt verschiedene Überlebenstechniken in einer künstlichen Welt- Action, Liebe, Sex und Gewalt. In den Metropolen der Halben Welt wuchert eine Kultur aus verschiedenen Sprachen und Lebensformen. Katz (Dani Levy) ein Dealer, streunt herum und verkauft alte Ansichtskarten einer längst verotteten Natur. Herzog (Rainer Egger) steht jeden morgen mit der Stoppuhr auf dem Dach seines Hauses und versucht den Sonnenaufgang zu ertragen. Die "Weißen" besitzen das Monopol auf die Vergangenheit und produzieren mittels alter Naturaufnahmen elektronische Illusionen für eine unsichtbare Elite. Die "Schwarzen" bemächtigen sich dieser Illusionsmaschinen und manipulieren sie. In Sunnys Tagesbar trifft sich die halbe Welt.
Österreich 1993, 83 Min, Farbe, S-16 / 1:1.66 (Blow up to 35mm)
Regie: Florian Flicker
Darsteller: Rainer Egger (Herzog)
Dani Levy (Katz)
Maria Schrader (Sunny)
Mercedes Echerer (Sina)
Goran Rebic (Repro)
i.w.R.: Proschat Madani, Allen Browne, Michael Kreihsl, Karl Markovics, Cornelia Lippert, Clemens Galen, Heinrich Strobele, Mara Mattuschka u.a.
Wörterbuch:
- psychedelisch: https://de.wikipedia.org/wiki/Psychedelisch
- virtual reality: https://www.focus.de/wissen/wissenschaft/virtual-reality-digitale-traumreisen_aid_143805.html
- synthetische Erlebnisse, Computerspiele, z.B. https://www.planet-xbox.de/?article=6619&name=Interview_Tetsuya_Mizuguchi_Q_Entertainm
- Genre: Utopie/Science Fiction/Fantasy? Siehe Aldous Huxley, George Orwell
- Ozonloch, Klimaveränderung
Thesen:
o Der Einzelne gegen die Mächte
o Freiheit braucht Sinnlichkeit und Natur
o in einer synthetischen Welt verkümmert der Mensch und die Gesellschaft
o ein von synthetischen Elementen durchsetztes Leben erschwert das moralische Urteil des Menschen: was gut/böse, richtig/falsch ist
o es gibt ein unstillbares Bedürfnis des Menschen nach Beheimatung in einer intakten Natur
o die Verdrängung und Zerstörung der Natur entspringt dem Kampf des Menschen gegen sich selbst: seinen Blockaden, seinem innerer Unfrieden, seiner Unversöhntheit
Natürliches / synthetisches Leben
+ Essen: Kunstdünger, Insektenvertilgung, Massentierhaltung in Fleischfabriken, antibiotische Nahrungszusätze, gentechnisch verändertes Soja aus Übersee, Tiertransporte quer durch Europa
+ Liebe: Kosmetik, gefärbte Haare, Schönheitschirurgie, Empfängnisverhütung, künstliche Befruchtung, Genanalyse, synthetische Genomproduktion (vorerst bei Bakterien)
+ Fortbewegung: "Massen/Individual"verkehr, nur mit Auto erreichbare Wohnquartiere, auf Autoverkehr ausgerichtete Infrastruktur
+ Freizeit: Computerspiele als Abenteuersimulation, Fernsehen, Videos, Kommerzkino, Joggen mit iPod, Shopping mit Musikberieselung, Sport mit Kunstfaser- und formaldehydimprägnierter Sportbekleidung, Spezialgeräte wie Fahrrad oder Klettergurt, spezielle Areale wie Golfplatz oder Kletterwand; Kraftkammer, Wandern mit JPS-Navigation und Handy-Notruf
+ Reisen: All inclusive ohne Meerwasserkontakt, dafür aber Begegnungsmöglichkeit mit der einheimischen Bevölkerung im Servicedienst, Flugreisen
-----------------------------------------------------------------------------------
1.
Gut, so einen verstörenden Film auszuhalten. Sowenig Handlung, sowenig zu sehen, soviel Unbegreifliches. Verstörend auch, weil da Lebensformen vorgeführt werden, die wir kennen, aber nicht in ihrer Absurdität gesehen haben.
a.
Keine Lebensprojekte sichtbar, niemand arbeitet, keine Familien, jeder nur für sich, einziges Ziel ist das Erlebnis, der Genuss. Und ein recht fragwürdiger Genuss: alles künstlich und steril. Einziges sichtbare Lebensalter: zwischen 20 und 30, keine Kinder, keine Alten.
b.
Eine Hauptperson, die nicht handelt – oder gerade das Handeln/die Tätigkeit/die Beschäftigung/die Anstellung abbricht: der Angestellte der Bilder-Kontrollfirma/des Geheimdienstes scheint gekündigt zu haben/übergelaufen zu sein. Herzog, der Stumme, der Beobachtende, der sich Zurückziehende.
c.
Bilder von der Natur: Familienalben, am See, im Wald, am Berg, kitschig, scheußlich, beliebig. Apparate von der Natur: ein virtueller Kletterfelsen, eine virtuelle Bootsfahrt. Drogen von der Natur: halluzinierte sexuelle Abenteuer mit der am Kaffeehaustisch gegenüber sitzenden Prostituierten. Nichts ist echt.
d.
Alles ist gleichmäßig, plätschert und tröpfelt, keine Aufregungen, keine Ziele, keine Richtung. Außer Herzog, der auf die Spur gekommen ist: Er hat gesehen, wie jemand in der wirklichen Welt war, draußen im Freien, wo die Sonne unbarmherzig jedes Leben vernichtet, und wie diese Frau danach zu Grunde ging. Die Pupillen verfärbt, die Stimme verändert, zuletzt Blut gespuckt.
e.
Herzog stellt sich der devastierten Natur, der zerstörerischen Sonne. Er versucht, auszuhalten, Luft zu atmen, frei zu gehen, Licht zu ertragen. Er steigt aus. Steigt aus der Unterwelt heraus. Betritt die Oberfläche. Beginnt, die Welt zu erkunden, wie sie wirklich ist. Sucht die wirkliche Welt, der Apparate und Spiegelungen überdrüssig. Und riskiert sein Leben.
f.
Aber auch sein Ausstieg wird eingeholt: vom Taxi, von den Fahndern, von den Illegalen. Im Freien wiederholt sich das undurchsichtige Getriebe der Unterwelt und wird nun allererst sichtbar: Gewalt, Korruption, Verführung, Geschäftemacherei. Herzog wird eingeholt. Vielleicht gelingt erst im Tod der Ausstieg aus dieser verdammten Welt.
2.
Was war so verstörend? Dass die Natur so restlos zerstört ist, dass der Mensch sich so selbstverständlich im Künstlichen eingerichtet hat, und besonders: wie der Mensch nun ist, ohne Natur.
a.
Sie sind nicht unfreundlich, der Katz, die Sunny, die Sina, der Repro, nicht unsympathisch – aber ohne Charakter, ohne Neugier, ohne Berührung: alle irgendwie beiläufig in irgend etwas verstrickt, ohne einen wirklichen Blick auf etwas. Vielleicht am deutlichsten bei Katz, der immer irgendein Geschäft machen will mit allen und mit allem. Wie ferngesteuert, die ganze Gesellschaft.
b.
Nein, verstörend ist, dass wir in all dem immer nur uns selbst erblicken: So sind wir, in der Straßenbahn am Weg in die Arbeit, vor dem Fernseher, in irgendeiner Beschäftigung. So nicht da. So vergnügungssüchtig, so leer, so sinnlos. Und so wehleidig, so naturfern. Und so einverstanden mit all dem scheinbar Unausweichlichen, mit den kurzen Fristen, mit dem Verschwundenen. Denn es ist ja auch das Leid verschwunden, die Mühen, das Anstrengende, das Herausfordernde.
c.
Wer im Sommer auf der Alm ist, am Bauernhof, am See, am Meer, wie ein kleines Aussteigertum, auf asphaltierten Straßen, mit Satellitennavigation, und Handy, iPod und Kletterwand, Fotoapparat und Sonnenbrille, Swimming-Pool und Sonnencreme. Der simuliert Natur. Der produziert eben jene Natur, die von Luna ins Feuer geworfen wird.
d.
Aber Natur ist auch: das Wesentliche. Das Eigentliche. Das, was in sich selbst ist. Zöge sich die Natur zurück, dann wäre auch der Mensch nichts mehr aus sich selbst. Wäre nur mehr, was er aus sich macht – und was die anderen aus ihm machen. Der Verlust des Natürlichen ist auch der Verlust des Ursprünglichen.
3.
Dieser 15 Jahre alte Science Fiction- Film Florian Flickers könnte ganz gut eine Literaturverfilmung sein, obwohl er der Fantasie von Regisseur und Mitarbeitern entsprungen ist und einem kreativen, unabsehbaren Schaffensprozeß mit geringen technischen Mitteln – etwa mehrfach belichteten Bildern.
a.
Zunächst läßt sich im Film Oswald Wieners „Die Verbesserung von Mitteleuropa“ ablesen, besonders der Bioadapter. Aber auch all die lakonischen Vorgänge zwischen den Figuren, das Exzessive, dort der Alkohol, hier die Drogen, die Vorherrschaft von Genuss und Simulation. Und die Nähe der ganzen Szenerie an der Gewalt. Wiener selbst scheint inzwischen der von ihm und seinen Künstlerpartnern damals dargestellten Lakonie erlegen zu sein und hält jetzt ernsthafte Vorlesungen über künstliche Intelligenz – oder er hat die Ironie der Darstellung perfektioniert bis zur Unkenntlichkeit.
b.
Wer Platons Höhlengleichnis in der Halben Welt zu lesen vermag, wird Herzog auf den Schutthalden (der im Bau befindlichen Donauinsel) ins Reich der reinen Ideen blinzeln sehen, nachdem er der dunklen Höhle der Einbildungen und Täuschungen durch die Sinne entkommen ist. Wie die in der Sinnlichkeit Befangenen nur immer mit wirklichkeitslosen Abbildern zu tun haben, während der zur Vernunft Aufsteigende nicht mehr nach sichtbaren Dingen sucht, sondern nach Einsicht in Wesenheiten, so stellt sich einwandfrei seine Zweiweltenlehre dar in einer sichtbaren, aber uneigentlichen, und einer unsichtbaren, befreienden Welt – derer der Mensch aber nicht standhalten kann. Recht klar kann auch die in der Höhle vorherrschende Begierdeseele identifiziert werden, wodurch der Bewohner „weder Ordnung noch Pflichtenzwang kennt, sondern nach Lust und Laune in den Tag hinein lebt und das ein liebliches, freies und seliges Leben heißt“ (Staat 561), also die nach Plato recht bedenkliche vernunftarme Staatsform der Demokratie.
c.
Zwar ist die geöffnete Tür zu sehen, und auch der Posaunenklang ist zu vernehmen, wenn die Zeit um ist und die Endzeit anbrechen könnte. Die Verheißung an den Heraufkommenden, dass ihm gezeigt würde, was geschehen solle, ließe sich noch erahnen. Aber da es ein Film aus Europa ist und kein amerikanischer, folgt darauf keine Thronvision mit umstehenden Adjudanten und tier- und menschenähnlichen Wesen. Kein Buch und folglich kein Text, keine Offenbarung und keine Abrechnung und Herstellung wahrer Gerechtigkeit. Vielleicht könnte man in dem unter den Menschen aufräumenden Luna-Agenten einen Drachen sehen, der die Frau verfolgt, und sogar ein Kind ist wundersam aufgetaucht im Handgemenge der Verfolgung. Aber da ist keine typologische Bedeutung mehr, die bleibt allein bei Herzog, also keine Apokalypse (wie die meisten Science Fiction – Filme), kein Weltuntergang, kein Rettungshorizont. Nur jeder/jedes für sich, lauter Einzelereignisse, die Wesensschau/die Erkenntnis bleibt allein dem zum Grunde gehenden Herzog vorbehalten, der niemanden erlöst.
d.
Die Verstörung ist also berechtigt.
Österreich 1993, 83 Min, Farbe, S-16 / 1:1.66 (Blow up to 35mm)
Regie: Florian Flicker
Darsteller: Rainer Egger (Herzog)
Dani Levy (Katz)
Maria Schrader (Sunny)
Mercedes Echerer (Sina)
Goran Rebic (Repro)
i.w.R.: Proschat Madani, Allen Browne, Michael Kreihsl, Karl Markovics, Cornelia Lippert, Clemens Galen, Heinrich Strobele, Mara Mattuschka u.a.
Wörterbuch:
- psychedelisch: https://de.wikipedia.org/wiki/Psychedelisch
- virtual reality: https://www.focus.de/wissen/wissenschaft/virtual-reality-digitale-traumreisen_aid_143805.html
- synthetische Erlebnisse, Computerspiele, z.B. https://www.planet-xbox.de/?article=6619&name=Interview_Tetsuya_Mizuguchi_Q_Entertainm
- Genre: Utopie/Science Fiction/Fantasy? Siehe Aldous Huxley, George Orwell
- Ozonloch, Klimaveränderung
Thesen:
o Der Einzelne gegen die Mächte
o Freiheit braucht Sinnlichkeit und Natur
o in einer synthetischen Welt verkümmert der Mensch und die Gesellschaft
o ein von synthetischen Elementen durchsetztes Leben erschwert das moralische Urteil des Menschen: was gut/böse, richtig/falsch ist
o es gibt ein unstillbares Bedürfnis des Menschen nach Beheimatung in einer intakten Natur
o die Verdrängung und Zerstörung der Natur entspringt dem Kampf des Menschen gegen sich selbst: seinen Blockaden, seinem innerer Unfrieden, seiner Unversöhntheit
Natürliches / synthetisches Leben
+ Essen: Kunstdünger, Insektenvertilgung, Massentierhaltung in Fleischfabriken, antibiotische Nahrungszusätze, gentechnisch verändertes Soja aus Übersee, Tiertransporte quer durch Europa
+ Liebe: Kosmetik, gefärbte Haare, Schönheitschirurgie, Empfängnisverhütung, künstliche Befruchtung, Genanalyse, synthetische Genomproduktion (vorerst bei Bakterien)
+ Fortbewegung: "Massen/Individual"verkehr, nur mit Auto erreichbare Wohnquartiere, auf Autoverkehr ausgerichtete Infrastruktur
+ Freizeit: Computerspiele als Abenteuersimulation, Fernsehen, Videos, Kommerzkino, Joggen mit iPod, Shopping mit Musikberieselung, Sport mit Kunstfaser- und formaldehydimprägnierter Sportbekleidung, Spezialgeräte wie Fahrrad oder Klettergurt, spezielle Areale wie Golfplatz oder Kletterwand; Kraftkammer, Wandern mit JPS-Navigation und Handy-Notruf
+ Reisen: All inclusive ohne Meerwasserkontakt, dafür aber Begegnungsmöglichkeit mit der einheimischen Bevölkerung im Servicedienst, Flugreisen
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1.
Gut, so einen verstörenden Film auszuhalten. Sowenig Handlung, sowenig zu sehen, soviel Unbegreifliches. Verstörend auch, weil da Lebensformen vorgeführt werden, die wir kennen, aber nicht in ihrer Absurdität gesehen haben.
a.
Keine Lebensprojekte sichtbar, niemand arbeitet, keine Familien, jeder nur für sich, einziges Ziel ist das Erlebnis, der Genuss. Und ein recht fragwürdiger Genuss: alles künstlich und steril. Einziges sichtbare Lebensalter: zwischen 20 und 30, keine Kinder, keine Alten.
b.
Eine Hauptperson, die nicht handelt – oder gerade das Handeln/die Tätigkeit/die Beschäftigung/die Anstellung abbricht: der Angestellte der Bilder-Kontrollfirma/des Geheimdienstes scheint gekündigt zu haben/übergelaufen zu sein. Herzog, der Stumme, der Beobachtende, der sich Zurückziehende.
c.
Bilder von der Natur: Familienalben, am See, im Wald, am Berg, kitschig, scheußlich, beliebig. Apparate von der Natur: ein virtueller Kletterfelsen, eine virtuelle Bootsfahrt. Drogen von der Natur: halluzinierte sexuelle Abenteuer mit der am Kaffeehaustisch gegenüber sitzenden Prostituierten. Nichts ist echt.
d.
Alles ist gleichmäßig, plätschert und tröpfelt, keine Aufregungen, keine Ziele, keine Richtung. Außer Herzog, der auf die Spur gekommen ist: Er hat gesehen, wie jemand in der wirklichen Welt war, draußen im Freien, wo die Sonne unbarmherzig jedes Leben vernichtet, und wie diese Frau danach zu Grunde ging. Die Pupillen verfärbt, die Stimme verändert, zuletzt Blut gespuckt.
e.
Herzog stellt sich der devastierten Natur, der zerstörerischen Sonne. Er versucht, auszuhalten, Luft zu atmen, frei zu gehen, Licht zu ertragen. Er steigt aus. Steigt aus der Unterwelt heraus. Betritt die Oberfläche. Beginnt, die Welt zu erkunden, wie sie wirklich ist. Sucht die wirkliche Welt, der Apparate und Spiegelungen überdrüssig. Und riskiert sein Leben.
f.
Aber auch sein Ausstieg wird eingeholt: vom Taxi, von den Fahndern, von den Illegalen. Im Freien wiederholt sich das undurchsichtige Getriebe der Unterwelt und wird nun allererst sichtbar: Gewalt, Korruption, Verführung, Geschäftemacherei. Herzog wird eingeholt. Vielleicht gelingt erst im Tod der Ausstieg aus dieser verdammten Welt.
2.
Was war so verstörend? Dass die Natur so restlos zerstört ist, dass der Mensch sich so selbstverständlich im Künstlichen eingerichtet hat, und besonders: wie der Mensch nun ist, ohne Natur.
a.
Sie sind nicht unfreundlich, der Katz, die Sunny, die Sina, der Repro, nicht unsympathisch – aber ohne Charakter, ohne Neugier, ohne Berührung: alle irgendwie beiläufig in irgend etwas verstrickt, ohne einen wirklichen Blick auf etwas. Vielleicht am deutlichsten bei Katz, der immer irgendein Geschäft machen will mit allen und mit allem. Wie ferngesteuert, die ganze Gesellschaft.
b.
Nein, verstörend ist, dass wir in all dem immer nur uns selbst erblicken: So sind wir, in der Straßenbahn am Weg in die Arbeit, vor dem Fernseher, in irgendeiner Beschäftigung. So nicht da. So vergnügungssüchtig, so leer, so sinnlos. Und so wehleidig, so naturfern. Und so einverstanden mit all dem scheinbar Unausweichlichen, mit den kurzen Fristen, mit dem Verschwundenen. Denn es ist ja auch das Leid verschwunden, die Mühen, das Anstrengende, das Herausfordernde.
c.
Wer im Sommer auf der Alm ist, am Bauernhof, am See, am Meer, wie ein kleines Aussteigertum, auf asphaltierten Straßen, mit Satellitennavigation, und Handy, iPod und Kletterwand, Fotoapparat und Sonnenbrille, Swimming-Pool und Sonnencreme. Der simuliert Natur. Der produziert eben jene Natur, die von Luna ins Feuer geworfen wird.
d.
Aber Natur ist auch: das Wesentliche. Das Eigentliche. Das, was in sich selbst ist. Zöge sich die Natur zurück, dann wäre auch der Mensch nichts mehr aus sich selbst. Wäre nur mehr, was er aus sich macht – und was die anderen aus ihm machen. Der Verlust des Natürlichen ist auch der Verlust des Ursprünglichen.
3.
Dieser 15 Jahre alte Science Fiction- Film Florian Flickers könnte ganz gut eine Literaturverfilmung sein, obwohl er der Fantasie von Regisseur und Mitarbeitern entsprungen ist und einem kreativen, unabsehbaren Schaffensprozeß mit geringen technischen Mitteln – etwa mehrfach belichteten Bildern.
a.
Zunächst läßt sich im Film Oswald Wieners „Die Verbesserung von Mitteleuropa“ ablesen, besonders der Bioadapter. Aber auch all die lakonischen Vorgänge zwischen den Figuren, das Exzessive, dort der Alkohol, hier die Drogen, die Vorherrschaft von Genuss und Simulation. Und die Nähe der ganzen Szenerie an der Gewalt. Wiener selbst scheint inzwischen der von ihm und seinen Künstlerpartnern damals dargestellten Lakonie erlegen zu sein und hält jetzt ernsthafte Vorlesungen über künstliche Intelligenz – oder er hat die Ironie der Darstellung perfektioniert bis zur Unkenntlichkeit.
b.
Wer Platons Höhlengleichnis in der Halben Welt zu lesen vermag, wird Herzog auf den Schutthalden (der im Bau befindlichen Donauinsel) ins Reich der reinen Ideen blinzeln sehen, nachdem er der dunklen Höhle der Einbildungen und Täuschungen durch die Sinne entkommen ist. Wie die in der Sinnlichkeit Befangenen nur immer mit wirklichkeitslosen Abbildern zu tun haben, während der zur Vernunft Aufsteigende nicht mehr nach sichtbaren Dingen sucht, sondern nach Einsicht in Wesenheiten, so stellt sich einwandfrei seine Zweiweltenlehre dar in einer sichtbaren, aber uneigentlichen, und einer unsichtbaren, befreienden Welt – derer der Mensch aber nicht standhalten kann. Recht klar kann auch die in der Höhle vorherrschende Begierdeseele identifiziert werden, wodurch der Bewohner „weder Ordnung noch Pflichtenzwang kennt, sondern nach Lust und Laune in den Tag hinein lebt und das ein liebliches, freies und seliges Leben heißt“ (Staat 561), also die nach Plato recht bedenkliche vernunftarme Staatsform der Demokratie.
c.
Zwar ist die geöffnete Tür zu sehen, und auch der Posaunenklang ist zu vernehmen, wenn die Zeit um ist und die Endzeit anbrechen könnte. Die Verheißung an den Heraufkommenden, dass ihm gezeigt würde, was geschehen solle, ließe sich noch erahnen. Aber da es ein Film aus Europa ist und kein amerikanischer, folgt darauf keine Thronvision mit umstehenden Adjudanten und tier- und menschenähnlichen Wesen. Kein Buch und folglich kein Text, keine Offenbarung und keine Abrechnung und Herstellung wahrer Gerechtigkeit. Vielleicht könnte man in dem unter den Menschen aufräumenden Luna-Agenten einen Drachen sehen, der die Frau verfolgt, und sogar ein Kind ist wundersam aufgetaucht im Handgemenge der Verfolgung. Aber da ist keine typologische Bedeutung mehr, die bleibt allein bei Herzog, also keine Apokalypse (wie die meisten Science Fiction – Filme), kein Weltuntergang, kein Rettungshorizont. Nur jeder/jedes für sich, lauter Einzelereignisse, die Wesensschau/die Erkenntnis bleibt allein dem zum Grunde gehenden Herzog vorbehalten, der niemanden erlöst.
d.
Die Verstörung ist also berechtigt.
weichensteller - 2. Mai, 22:15