Donnerstag, 21. Mai 2009

Vom Karussellfahren

Wenn du jeden Tag aufstehst, aus den Augenwinkeln die Familie registrierst, das Frühstück hinunterschlingst und zur Arbeit eilst. Und am Ende der Woche, wenn sich Sonne ankündigt, das Weite suchst, um in der Natur etwas davon wiederzubekommen, was du während der Woche verloren hast. Dann bist du ein Reiter auf dem Hutschpferd im Karussell. Drehst die selben Kreise Jahr für Jahr, unter dem Eindruck von Eigenbewegung.

Aber das Ganze ist mit Mängeln behaftet. Der Radius ist relativ klein. Das Personal ist limitiert, innerhalb von Grenzen wird es immer wieder ausgetauscht. Die Schaukelbewegungen sind lustvoll und erinnern an die Zeit vor der Geburt – aber mit den Jahren nimmt die Lust ab. Dann zählen die Errungenschaften, die zurückgelegten Kilometer und neugebauten Hutschpferdchen, im neuen, amerikanischen Stil. Und wer gut gelernt hat und gut in Bewegung ist, kann die Umdrehung noch etwas beschleunigen. Die zivilisierte Menschheit tut das Jahr für Jahr. Mehr Energieverbrauch, eine größere Gemüseauswahl aus Übersee, ein Winterurlaub am Meer.

Nun ist es unbestritten, dass auch Karussellfahrer erwachsen werden können. Dann ahnen sie eine größere und unbegreifliche Welt, wo andere Maßstäbe gelten. Eine Menschlichkeit, die auch für Fremde offen ist. Ein Interesse am Menschen jenseits seiner Verwertbarkeit. Begegnungen von der Art, wo auch Veränderung möglich ist. Ein Blick auf Menschen, der sie wachsen sieht. Eine Brise aus einem jenseitigen Land. –

Und dann kommt der Moment der Entscheidung. Springst du herunter vom Karussell und trappelst mit anfangs schwindligem Kopf ein paar Schritte an den Verkaufsbuden vorbei, aufs offene Land zu. Oder kehrst du wieder zurück auf dein Holzpferdchen und drehst dich noch ein bisschen schneller. Dann bist du endgültig in der Provinz angekommen. Die Provinzbewohner sind diejenigen, die es nicht anders wollen. Die die Kreisbewegung gewählt haben, nicht erlitten. Die absichtlich auf Pferdchen sitzen und dabei nicht gestört werden wollen. Und die lächelnden Zuschauer draußen verhöhnen. Die Provinz erduldet nichts außerhalb. Ein richtiger Bewohner der Menschenprovinz ist mit seinem Pferdchen verwachsen und nimmt es überallhin mit, und das Pferdchen wiehert und frisst Heu. Eine lustige Karussellwelt.

Aber derjenige, der vom Himmel gekommen ist, ist auf einem Esel geritten, keinem Schaukelpferd. Der Esel fügt sich ebenso wenig in die Kreisbewegung wie sein Reiter. Er hat die Drehbühnen durchquert, ohne schwindlig zu werden. Viele Reiter haben ihre Holzpferdchen verlassen und sind ihm gefolgt. An der gefährlichen Stufe sind einige gestolpert, manche auch gestürzt. Der Himmlische hat sie nicht zurückgelassen, sondern auf sie gewartet, bis der Schwindel sich gelegt hat und sie wieder auf die Beine kamen. Hinter der letzten Bude des Jahrmarkts haben sie zurückgeschaut und das Gefängnis erkannt. Ein Konzentrationslager ohne Wärter und Stacheldraht, mit lustigen und sentimentalen Liedern und Bratwurstduft. Mag sein, dass da der eine oder andere kopfschüttelnd nochmals zurückgegangen ist. Man erzählt aber auch vom Gefängniswärter, der sich zuerst an den Hals griff und dann den Himmlischen anschloss.

Die Welten außerhalb des Jahrmarkts waren unermesslich. Wer da ohne Vorausgeher bestehen will! Mancher verirrte sich und verlor den Himmlischen, und zurück fand er auch nicht mehr. Denn es war eine neue Bewegung. Nicht mehr Wiederholung, kein Kreisen mehr. Jetzt hatte das Gehen eine Richtung bekommen, eine Vorwärtsbewegung, die nicht mehr den Grenzen folgte, sondern sie durchquerte, auch die Todeslinie.

Geht hinaus in die ganze Welt, sagte der Himmlische zu ihnen, bevor er selbst die letzte der Grenzen übersieg, die Grenze der Sichtbarkeit und Verstehbarkeit. Und sprach vom Geist der Bewegung, der die Gehenden im Gang halten würde, damit sie Rat fänden bei den vielen Abzweigungen und ungelösten Fragen. Von der Geisteskraft, die den Schwindelnden und Taumelnden wieder erfasst. Von der Einsicht, die man von einem höheren Punkt auf die Landschaft hat, die man durchquert. Von der Zuversicht, und von der Hoffnung, die die Menschen erfasst hat, als sie eine Ahnung von der Freiheit jenseits des Karussells bekamen wie der Hund die Witterung in der Nase hat. Solcher Art ist der Geist, der sie in Bewegung hält seither, und schon lange stehen sie nicht mehr herum und starren dem Himmlischen nach, der sie gesandt hat:

Geht hinaus in die ganze Welt
und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!

Ich wollte sicher sein, dass ich nicht vergeblich laufe oder gelaufen bin

Gal 2, 2

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