Wir Zuschauer
Wir Zaungäste der Europameisterschaft. Delektieren uns an den Emotionen der anderen. Die noch etwas zu hoffen/ zu gewinnen haben. Minutiöse Berichte der Vorbereitung der Spieler (seit Monaten täglich). Beobachtung der angereisten Fans: ihr Patriotismus/ ihr Konsumverhalten/ ihre Freude/Enttäuschung, jeweils in Großaufnahme.
Ach ja, unsere eigene Mannschaft. Das Fitnessbarometer anstelle der Klasse. Die Sensation des ersten und einzigen EM-Tores aus dem geschenkten Elfmeter in den letzten Spielsekunden. Das Lecken der Wunden, die uns Schiedsrichter, Schicksal, Pech zugefügt haben. Das Vergessen der eigenen Mittelmäßigkeit. Wir Österreicher wie der Portier beim Opernball, der sich zu fortgeschrittener Stunde auch einmal auf die Tanzfläche wagt.
Die Parteinahmen: Wir Zuschauer begeistern uns immer für diejenigen, die immer gewinnen: großes Mitleid für Franzosen und Italiener, wenn sie verlieren, nie für Mannschaften, mit denen wir es selbst aufnehmen könnten, nie für unseresgleichen, immer für die Sieger, die Mächtigen und Reichen. Die Spanier, die uns seinerzeit mit 9 : 0 abgefertigt hatten. Und wehe dem, der Schwäche zeigt, der nachdenkt, hinterfragt, der nicht über Leichen geht und nicht mit allen Mitteln den Sieg erzwingt: der bekommt Häme und Spott, dessen Schwächen werden genüßlich breitgewalzt, wochenlang, monatelang.
Wir Kirche haben Erfahrung damit. Wenn wir jahraus-jahrein ruhig und berechenbar geradeaus gehen, werden wir gerade noch stumm registriert wie die Bauwerke neben der Straße; allenfalls kleinere Konzertereignisse oder Wallfahrten oder renovierte Kirchentürme werden neben Käsefesten und Bordellraufereien mit kleinen Berichten versehen und in der Wahrnehmungskategorie des leicht Absonderlichen eingeordnet. Aber sobald irgendeine Tür einen Spalt sich öffnet und ein Unbeteiligter einen Blick erheischt, werden Autobeschaffungen und Postenbesetzungen zu geheimen Offenbarungen gemacht, an denen sich alle diejenigen lang- und breitsehen können, die keinen Zugang zu regulären Offenbarungen des Himmels haben.
Über dem ganzen Zusehen ist nirgendwo ein Handeln zu sehen gewesen, es sind lauter sich selbst reproduzierende Ereignisse, heute heißen die Gegner ..... und ....., und die Spiele haben die täglichen Quizshows und Seifenopern anstandslos ersetzt und werden schließlich wieder von ihnen abgelöst werden, und was da jeweils stattgefunden hat, wer soll sich das alles merken, in der nächsten Staffel ist ohnehin alles wieder ungültig.
Das totale Zusehen hat längst aus allem ein Bild gemacht, der Unterschied zwischen einem Stadionbesuch, einem öffentlichen Videostand und dem Fernseher liegt in der Lautstärke, der Bierverpflegung und den Wiederholungen in Großaufnahme. Auch unsere eigene Bildwerdung ist weit fortgeschritten, unsere Bedürfnisse erscheinen täglich im Werbefernsehen, und der Sinn unseres Lebens wird im gesteigerten Privatkonsum und im Wirtschaftswachstum angegeben. Was Wohlgefühl und Glück, Schönheit und Erfolg sind, liest man aus Bildern.
Wo sind die Bilderalben des geglückten Lebens? Des sinnvollen Einsatzes in Beruf, des sozialen Engagements in der Freizeit. Der gelingenden Partnerschaft. Der orientierungsgebenden Förderung der Heranwachsenden. Bilder des selbstbewußten freien Menschen, der lange überlegt hat und nun weiß, was er tut.
Wir Abbilder der Bilder.
Wir Zuschauer.
weichensteller - 16. Jun, 16:49